Die Hornisse
längst als Langzeitobdachlosen.
»Seine Mutter hat seinerzeit versucht, ihn abzutreiben. Aber es ist schiefgegangen«, sagte West ruhig. »So heißt es wenigstens.« Mit einem Summen öffnete sie Brazils Fenster. »Er lebt schon immer hier draußen.« Sie beugte sich zu seinem Fenster hinüber und rief nach draußen: »Wie geht's denn so?«
Die Antwort konnte Brazil beim besten Willen nicht verstehen. Der junge Mann gestikulierte wild und gab seltsame Laute von sich, die Brazil einen Schauer über den Rücken jagten. Er wünschte, West würde schnell davonfahren, bevor diese Kreatur ihm ins Gesicht atmen oder ihn anreden konnte. Himmel, wie der Typ nach dreckigen Bierflaschen und Abfall stank. Brazil zuckte vom Fenster zurück und lehnte plötzlich an Wests Schulter.
»Sie stinken ja«, sagte West mit angehaltener Luft zu ihm und lächelte dabei ihren Besucher an. »Das bin nicht ich«, sagte Brazil.
»Sind Sie doch.« Für ihren Besucher fügte sie hinzu: »Was machst du hier draußen?«
Er gestikulierte und wurde immer aufgeregter, während er der netten Polizeilady alles erzählte, was so passiert war. Die lächelte zurück und war sichtlich angetan von seinem Bericht. Ihr Partner brauchte eine kleine Aufheiterung.
Boy, wie er seit jeher genannt wurde, wußte genau wenn ein Cop noch nicht lange dabei war. Boy erkannte das an seiner angespannten Haltung, seinem Gesichtsausdruck, und das inspirierte ihn jedesmal, einen kleinen Spaß zu treiben. Boy starrte Brazil an und schenkte ihm sein breites zahnloses Lächeln, was ihm das Aussehen eines exotischen Wesens von einem anderen Stern verlieh. Als Boy das Greenhorn antippte, zuckte das Greenhorn zurück. Das freute Boy. Er wurde lauter, tanzte herum und piekte das Greenhorn wieder mit seinem Finger. West lachte und blinzelte ihrem Begleiter zu. »Na so was«, sagte sie. »Ich glaube, der mag Sie.« Schließlich schloß sie das Fenster. Brazil fühlte sich furchtbar beschmutzt. Er hatte Bier auf der Uniform. Ein zahnloses Wesen, das sein Leben in einem Müllcontainer verbrachte, hatte ihn angefaßt. Brazil glaubte, sich übergeben zu müssen. Er war empört. Wests Lachen verletzte ihn. Sie zündete sich eine Zigarette an und fuhr los. Sie hatte diese Erniedrigung nicht nur nicht verhindert, nein, sie hatte sie herbeigeführt und obendrein genossen. Schweigend grollte er vor sich hin, während sie den Wagen über den West Boulevard in Richtung Flughafen lenkte.
Sie bog auf den Billy Graham Parkway ein und fragte sich, wie es wäre, wenn ein größerer Highway einmal nach ihr benannt würde. Wahrscheinlich würde es ihr gar nicht gefallen, wenn Tag und Nacht Autos und Lastwagen über sie hinwegrollten. Sie würden abgeplatzte Reifen und Schleuderspuren auf ihr zurücklassen. Die Fahrer würden einander Obszönitäten zurufen, den dicken Finger zeigen oder eine Kanone ziehen. Es ist nichts Christliches an einer Straße, überlegte West weiter, es sei denn die Straße wird als biblisches Bild gebraucht, man denke an den Weg zur Hölle und an das, womit er gepflastert ist. Je länger sie über derlei nachdachte, desto größer wurde ihr Mitleid mit Reverend Billy Graham. Er war in Charlotte geboren, in einem Haus, das später gegen seinen Willen für einen religiösen Themenpark in der Nähe enteignet worden war.
Brazil wußte nicht, wohin sie fuhren, aber jedenfalls nicht dahin, wo was los war. Außerdem hatte West offensichtlich nicht die Absicht, ihn irgendwohin zu bringen, wo er sich saubermachen konnte. Gebannt lauschte er den Funkdurchsagen. An der Central Avenue im Bezirk Charlie Two schien was abzugehen. Warum fuhren sie also in die entgegengesetzte Richtung? Er mußte daran denken, daß seine Mutter sich Billy Graham immer im Fernsehen angesehen hatte, egal, was das Programm sonst noch bot oder was Brazil gern gesehen hätte. Wie schwierig es wohl sein mochte, an ein Statement des berühmten Predigers zu kommen. Vielleicht würde er auch einmal Nachforschungen über Reverend Grahams Einstellung zum Verbrechen anstellen.
»Wohin fahren wir?« fragte Brazil, als sie in die Boyer abbogen und zurück zum Wilkinson Boulevard fuhren.
Das war nun tatsächlich die sündige Meile, doch West hielt es hier nicht lange. Schnell ließ sie den Greenbriar Industrial Park hinter sich, bog nach links in die Alleghany Street und nahm Kurs auf Westerly Hills, ein unbedeutendes Viertel nicht weit von der Harding High School. Brazils Laune sank zusehends. Ob West wieder ihre
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