Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
erfahren?
»Im Augenblick belassen wir alles so, wie es ist. Es scheint doch alles zu klappen, stimmt’s?«, fragte sie. Es hörte sich eher an wie eine Bitte.
»Ja«, sagte ich und schaute mich in meinem großen Zimmer um. Welche Ironie es doch war, dass ich mich hier ebenso als Gefangene fühlte wie in The Projects. Nur statt
Gittern an den Fenstern war ich hier eingesperrt hinter Geheimnissen und Lügen.
Meine Mutter beendete das Gespräch mit vagen Versprechungen. Irgendwann in der Zukunft würden wir eine richtige Familie sein. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als wäre ich eine Waise geworden, ein Mensch ohne Geschichte. Alle Erwachsenen in meinem Leben waren wie Prismen, die ständig die Farbe wechselten, mich verwirrten. War ich nur ein närrisches, leichtgläubiges Mädchen, das sich an falsche Hoffnungen klammerte? All das zog mich hinab in einen See der Depressionen, in dem die Traurigkeit um mich Wellen schlug.
Der Sonnenschein, der meine Vorhänge erhellte, wischte die Trübseligkeit jedoch rasch weg. Der heutige Tag war nahezu vollkommen, dachte ich, als ich zu dem türkisgrünen Himmel hinaufschaute, an dem kleine Tuffs von weißen Wölkchen sich kaum regten. Alle Grünpflanzen, die Blumen, die Springbrunnen und selbst die gepflasterten Wege strahlten Lebenskraft aus. Das hob meine Laune, und ich erinnerte mich daran, dass Corbette um zwei Uhr vorbeikam, um mich abzuholen.
Ich schaute meine Garderobe durch und wählte eine graue Hose und eine cremefarbene Seidenbluse. Ich trug etwas Lippenstift auf, bürstete mir das Haar, bis es glänzte, und musterte mich dann eingehend im Spiegel. Ich fragte mich, was die Jungen vom Sweet William in mir sahen, wenn sie mich anstarrten. Natürlich gab es immer welche, die nicht über meine dunklere Haut hinwegsehen konnten und mich alleine aufgrund dessen beurteilten, aber was war mit den anderen? Sahen sie in mir die Exotin oder den Mischling? Für einige war ich vielleicht sogar ein Fehltritt.
War ich wirklich so attraktiv, wie Mama immer sagte? War meine Stirn nicht zu breit oder meine Nase zu dick? Und meine Schultern … waren sie nicht zu schmal?
Als ich mich anschaute, kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich bald im Schultheater auf der Bühne stehen und vor Hunderten von Menschen spielen würde, deren Augen alle auf mich gerichtet waren. Jede Unvollkommenheit würde für alle Welt sichtbar. Was hatte ich getan? In welcher Traumwelt hatte ich mich befunden, als ich zustimmte, das zu tun? Bestimmt bekam ich Lampenfieber.Wie konnte ich jetzt noch zurück? Aus dem Stück zu diesem Zeitpunkt auszusteigen wäre unverzeihlich, eine grauenhafte Art, an einer neuen Schule anzufangen. Irgendwie musste ich da durch, und vielleicht würde es mir helfen, mit Corbette zu arbeiten. Zumindest hoffte ich das.
Als es fast zwei Uhr war, hielt ich mich in der Nähe der Haustür auf. Ich hatte Merilyn nicht gesagt, wo ich hinging. Das ging sie nichts an, fand ich. Aber wenn sie mich nun brauchte oder wenn Großmutter Hudson anrief? Zögernd machte ich mich auf die Suche nach ihr und fand sie Zeitschriften lesend im Arbeitszimmer. Als ich auftauchte, sprang sie vor Schreck beinahe aus dem Hemd.
»Warum schleichen Sie sich so an mich an?«, fauchte sie.
»Ich habe mich nicht angeschlichen. Haben Sie nicht gesagt, Mrs Hudson wollte nicht, dass jemand hier hereinkommt?«
»Ich muss doch herein, um sauber zu machen, oder?«
»Mir ist es egal, ob sie hier drin sind oder nicht. Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, falls mich jemand sucht, ich bin ein paar Stunden bei Corbette Adams, um mit ihm meine Rolle zu proben.«
»Und vermutlich machen Sie sich wieder Ihr eigenes Abendessen?«
»Ja, das werde ich tatsächlich.«
»Dann kann ich mir ja heute Abend freinehmen. Mir steht noch ein freier Abend zu«, erklärte sie trotzig.
»Dafür brauchen Sie meine Erlaubnis nicht«, sagte ich. »Das weiß ich. Ich sage es Ihnen nur, falls mich jemand anruft«, greinte sie.
Ich hörte eine Hupe und eilte zurück zur Haustür. Corbette war in einem roten Corvette-Kabriolett vorgefahren.
»Nicht gerade das Auto, das George Gibbs fahren würde, aber es ist alles, was ich habe«, rief er mir zu.
Er trug ein hellblaues Hemd mit Button-down-Kragen und Jeans. Sein Haar war vom Wind ein wenig zerzaust.
»Hast du dein Textbuch?«, fragte er, als ich mich dem Auto näherte.
»Ja«, bestätigte ich und klopfte auf meine schwarze Ledertasche.
»Aber ich wette, du hast deinen Text
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