Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
ich sie scharf an. Sie zuckte zusammen.
»Warum hilfst du mir überhaupt? Schau doch, was ich dir heute angetan habe«, sagte sie.
»Du bist meine Schwester, Beni. Du wirst immer meine Schwester sein, Blut hin oder her.«
Sie nickte.
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich versuchte so zu handeln, als wärst du nicht mehr meine Schwester, aber das funktionierte nicht.«
»Wir haben in diesem Zimmer zu viel miteinander gelacht und geweint«, sagte ich.
Sie lächelte.
»Ich habe wirklich keine Freundin außer dir, Rain. Ich habe so getan, als hätte ich einen ganzen Haufen Freundinnen, aber ich habe keine wie dich.«
Wir umarmten uns.
»Lass uns mit der Vorbereitung für das Abendessen anfangen, bevor Mama nach Hause kommt«, sagte ich, und zum ersten Mal seit langem sprang sie auf, um mir zu helfen.
Ich stand auf, zog mich an und ging dann zur Schublade meines Frisiertisches, um mir mein kostbares Armband anzuschauen. Wie stolz und aufgeregt Mama gewesen war, als sie mir das schenkte, dachte ich. Wie schön es war und wie toll es an meinem Handgelenk wirkte. Ich erinnerte mich daran, wie Roy sagte, ich hätte die Finger und das Handgelenk für kostbare Steine. Es war der schönste Geburtstag meines Lebens. Und wenn ich mir das Armband anschaute, erstanden all das Lächeln und die Küsse wieder vor meinem inneren Auge. Mama sah so jung aus, wenn sie glücklich war, und sie war noch nie so glücklich gewesen wie an jenemTag.
Wie konnte sie so sein, da sie doch wusste, dass ich nicht ihre leibliche Tochter war? Wie konnte eine so kleine Lady so viel Liebe in sich haben? Meine wirkliche Mutter konnte keine halb so beeindruckende Persönlichkeit sein. Wie sehr wünschte ich mir, das alles stimmte nicht. Wie sehr wünschte ich mir, ich wäre die echte Tochter meiner Adoptivmutter.
Ich legte das Armband zurück. Morgen würde ich es mitnehmen. Direkt nach der Schule würden Beni und ich ins Pfandhaus gehen. Mir war gar nicht wohl dabei, solche Dinge hinter Mamas Rücken zu tun, aber welche Alternative gab es? Beni hatte Recht: Diese widerliche Geschichte würde Mamas schwaches Herz brechen. Beni war überzeugt davon, dass Mama sie dann ewig hassen würde. Ich musste ihr helfen.
Ich hoffte, ich tat das Richtige. Ich hoffte und betete, dass ich mir nicht nur die Liebe meiner Schwester zurückkaufte.
KAPITEL 6
Eine zerstörte Familie
R oy sagte nichts darüber, dass Beni nachsitzen musste, und ich natürlich auch nicht. Glücklicherweise war Mama zu müde, als sie von der Arbeit nach Hause kam, um sich eingehend nach unserem Tag in der Schule zu erkundigen. Der Ärger mit Ken am Abend zuvor hatte sie völlig ausgelaugt, sie hatte kaum genug Kraft, um ihr Abendessen zu verzehren. Ken kam nach Hause, nachdem wir fertig gegessen hatten, und verlangte, bedient zu werden.Wenn er zu viel trank, war er oft angriffslustig und gab uns die Schuld an seinem eigenen Versagen.Wir hatten das schon so oft gehört, dass wir kaum noch zuhörten. Selbst Mama tat so, als wäre er gar nicht da.
Er plapperte die Litanei seiner Klagen herunter.
»Ihr seid alle eine Last. Keiner von euch schätzt mich richtig. Ihr solltet jetzt mehr für mich tun. Roy sollte nicht glauben, er sei etwas Besonderes, bloß weil er arbeitet. Ich musste schon arbeiten, als ich erst zehn Jahre alt war, und ich habe meinem Vater nicht widersprochen. Latisha sollte aufhören, an mir herumzunörgeln.«
Immer weiter redete er, mittlerweile war er bei seinen gehässigen Angriffen auf die Regierung und ließ sich über Rassenvorurteile aus.
»Jetzt, wo du weißt, dass du weißes Blut in dir hast«, teilte
er mir mit vorwurfsvollem Blick mit, »wirst du vermutlich so tun, als kennst du uns nicht.«
»Das werde ich nicht«, widersprach ich.
»Glaub mir, Rain, du wirst dich mehr zu deiner weißen Seite hin orientieren als zu deiner schwarzen. Ich wette, tief im Innersten bist du froh, dass du weißes Blut hast.«
»Das stimmt nicht, und ich werde Beni, Roy und Mama nie verleugnen. Nie«, schwor ich.
Dich würde ich verleugnen, dachte ich, sagte es aber nicht.
Er lächelte mit dieser irritierenden Verachtung, die ich zu verabscheuen gelernt hatte.
»Wir werden sehen«, sagte er.
Ich wärmte das Essen auf und servierte es ihm in der Hoffnung, ein voller Magen würde ihn still machen und ihn früh einschlafen lassen. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart unbehaglich, seit er die Wahrheit über meine Herkunft enthüllt und uns erzählt hatte, was er vorhatte. Seine
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