Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
Uhr sieben schlug und wir aufstanden, würde sie explodieren. Aber vielleicht war ich immer noch die hirnrissige Optimistin, so wie Roy es mir vorwarf. Ich freute mich darauf, diesen Tumult durchzustehen, Beni aus dieser erniedrigenden Situation, in die sie sich gebracht hatte, zu befreien und sie vor einem Skandal zu bewahren. Morgen um diese Zeit würde alles vorbei sein, und wir könnten mit unserem Leben zurechtkommen. Wie ich mich danach sehnte. Es war schon seltsam, wie das Leben, das ich vorher für so schrecklich hielt, jetzt so begehrenswert wirkte.
Am Morgen säte ich die Saat für unsere Geschichte aus, nämlich wie nötig es wäre, abends zu lernen. Roy sah aus, als hätte er nicht viel mehr geschlafen als Beni und ich. Er saß mit halb geschlossenen Augen da und stellte nichts in Frage. Mama schaute ein wenig skeptisch, als sie hörte, dass Beni lernen wollte, aber ich erklärte ihr, wie wichtig die Arbeiten wären und dass von ihrem Ergebnis abhing, ob man in diesem Quartal durchfiel oder nicht. Jedes Mal, wenn ich in Benis Gesicht schaute, musste ich den Blick abwenden. Trotz ihrer Erfahrung war sie eine schlechte Lügnerin. Ihr
Gesicht war so leicht zu durchschauen wie eine Fensterscheibe. Jeder, der ihr in die Augen sah, bemerkte sofort ihre Unaufrichtigkeit.
Ken stand nie auf, bevor wir in die Schule gingen. Es wäre ihm auch völlig gleichgültig gewesen, was ich gesagt hätte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals eine von uns nach ihren Schularbeiten gefragt hätte. Selbst als wir noch klein waren und ihm unsere Bilder oder Hausaufgaben zeigten, die von der Lehrerin zum Lob mehrere Sterne bekommen hatten, warf er ohne jegliches Interesse einen Blick darauf, grunzte und ging seiner Wege.
Auf dem Weg zur Schule erfuhr ich, warum Roy so müde war und warum es ihm so schwer gefallen war einzuschlafen. Als Beni vorging, um mit Dede Wilson zu sprechen, hechtete Roy förmlich an meine Seite und packte mich am Arm, damit ich langsamer ging.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Nur ein bisschen müde«, sagte ich, weil ich befürchtete, er könnte Verdacht schöpfen.
»Es tut mir Leid, was gestern passiert ist. Es war zu schnell und nicht fair dir gegenüber. Es hat mir die ganze Nacht keine Ruhe gelassen. Ich konnte nicht viel schlafen, und du weißt, wie ungewöhnlich das für mich ist«, fügte er lächelnd hinzu.
»Ich weiß.« Ich lächelte auch.
»Ich will nicht, dass du mich hasst, Rain.«
»Das könnte ich doch nie, Roy«, erwiderte ich ernst.
Er nickte. Dann ließ Beni sich zurückfallen und er entfernte sich von uns.
»Ahnt Roy etwas?«, fragte sie.
»Nein.«
»Er wirkt durcheinander. Ich habe solche Angst, Rain«, sagte sie.
»Ich auch«, gab ich zu, worauf sie die Augen weit aufriss. »Aber wir kommen schon klar«, versicherte ich ihr.
Es war für Beni in der Schule ebenso schwer wie für mich, genau wie ich es erwartet hatte. Weil sie mir am Tag zuvor zu Hilfe geeilt war, mieden ihre wetterwendischen Freundinnen sie jetzt. Beim Mittagessen saßen sie und ich zum ersten Mal seit langer Zeit zusammen. Wir sahen, dass Alicia und Nicole uns verspotteten. Und ich wusste, das machte Beni so sehr zu schaffen, dass sie nichts essen konnte.
»Du solltest darüber nachdenken, was eine Freundin wirklich sein sollte, Beni«, erklärte ich ihr. »Diese Mädchen benutzen dich nur zu ihrem eigenen Vergnügen. Tatsache ist, dass sie einander das Gleiche antun würden, was sie jetzt dir antun.«
Sie nickte, wirkte aber nicht überzeugt.
»Ich werde keine Freunde mehr in der Schule haben. Die anderen Mädchen mögen mich nicht«, sagte sie.
»Das werden sie, wenn sie sehen, dass du nicht mehr mit diesen schlimmen Mädchen zusammen bist«, versicherte ich ihr, aber Beni hielt das für keine besonders gute Lösung. Beni fand die meisten anderen Mädchen langweilig oder unreif. Sobald du einmal Fahrt aufgenommen hast, waghalsig dahinrast und von Abenteuer und Gefahr gelockt wirst, fällt es schwer, wieder abzubremsen und vorsichtig im gleichen Tempo wie jedermann zu fahren. Trotz dem, was ihr widerfahren war und wie sie missbraucht worden war, wurde sie von denjenigen, die am Rande des Abgrundes lebten, angezogen. Ich wusste, dass ich glücklich sein sollte, dass
meine Schwester so viel Zeit mit mir verbrachte, aber sie tat mir auch Leid. Sie musste ihre Lebensart und ihr Denken gewaltig ändern, und ich hatte Angst, dass sie dazu nicht fähig war. Noch beängstigender war meine
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