Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
in seine und hielt sie einen Augenblick fest.
»Verlieb dich nicht zu schnell, Rain«, bat er. »Eines Tages trete ich wieder in dein Leben, und ich werde ein anderer sein. Ich werde älter sein, ein Mann, und du wirst anders an mich denken, genau wie ich es dir gesagt habe.«
»Ich werde mich nicht so schnell verlieben«, versprach ich, »aber du musst mir versprechen, dass du nichts dagegen tun wirst, dich in eine andere zu verlieben, Roy.«
»Ich werde dich immer lieben, Rain, und es wird immer mehr sein als die Liebe eines Bruders zu seiner Schwester.« Er schwieg einen Augenblick, dann schaute er durch die Dunkelheit auf und sagte: »Vielleicht hasse ich Daddy deswegen. Er brachte dich her und machte dich zu meiner Schwester. Das war falsch, und es war unnatürlich. Er hat uns in diese Situation gebracht.«
»Sonst hätten wir uns vielleicht nie kennen gelernt, Roy«, machte ich ihn aufmerksam.
»Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht haben Menschen, die sich verlieben, etwas Magisches an sich.Vielleicht kann man gar nicht verhindern, dass es passiert.Vergiss mich einfach nicht«, bat er. »Dreh den Ring hin und wieder in den Fingern.«
Er beugte sich vor und küsste mir die Wange. Einen Augenblick später war er verschwunden. Es geschah alles so schnell, dass ich nicht sicher sein konnte, das alles nur geträumt zu haben.
Am Morgen, als ich aufstand, mich wusch, anzog und in die Küche kam, war Roy bereits zur Arbeit gegangen.
»Er wollte nicht noch öfter auf Wiedersehen sagen«, teilte Mama mir mit.
»War mit ihm alles in Ordnung?«
»Es ging ihm gut. Mach dir keine Sorgen um den Jungen«, sagte sie stolz.
Sie und ich frühstückten, obwohl ich nicht viel herunterbrachte. Wir behielten die Uhr im Auge, und als es auf zehn zuging, nahm ich meinen Koffer und meine Tasche, und sie und ich gingen nach draußen vor das Gebäude.
Es war ein bewölkter Tag, von Nordwesten drohte Regen aufzuziehen, daher hatte der Wind aufgefrischt. Das Haar tanzte mir ums Gesicht. Mama schlang die Arme um sich.Wir starrten beide auf die Straße, den Verkehr und den Lärm. Wir sahen einen Obdachlosen, der unter einer Bank hervorkroch und seinen Einkaufswagen voller dreckiger Tüten den Bürgersteig entlangschob. In der Ferne heulte eine Sirene.
»Du musst dich doch gut fühlen, dass du dieses Höllenloch verlässt«, sagte Mama. Ich wusste, dass sie versuchte, ihre Entschlossenheit zu bewahren und ihre Tränen zu unterdrücken. Ich nickte. »Das ist eine gute Chance, Rain. Du wirst mich stolz auf dich machen, da bin ich mir sicher. Ich wünschte nur, ich hätte mehr für Beni tun können.«
»Ich weiß, Mama, aber gib dir nicht die Schuld daran.«
»Und gib du dir nicht die Schuld. Du hast deine Schwester doch immer nur geliebt. Hörst du, Rain? Trag kein schweres Gepäck in deinem Herzen mit dir herum, Schätzchen. Lass dich durch nichts abhalten, jemand zu werden.«
»Okay, Mama. Wann fährst du zu Tante Sylvia?«
»In zwei Tagen«, sagte sie.
»Du fährst doch wirklich, oder?«
»Natürlich fahre ich. Du hast die Adresse. Du schreibst mir und ich antworte dir«, versprach sie.
Plötzlich tauchte wie ein schwarzer Hai, der durch das Meer des Verkehrs kreuzt, die Limousine auf. In dieser Gegend war das ein so seltener Anblick, dass kein Zweifel daran bestand, für wen sie war. Sie fuhr vor uns rechts heran, und der Fahrer stieg schnell aus.
»Rain?«, fragte er. Es war ein Mann um die fünfzig mit schütterem, ergrauendem Haar und freundlichen blauen Augen.
»Ja«, sagte ich.
»Ich nehme das für dich«, sagte er und griff nach Koffer und Tasche.
Mama kam zum Kofferraum der Limousine und sah, was wir alles am Vortag gekauft hatten. Sie keuchte vor Freude, die Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Schau dir das alles an. Du verreist wie eine Prinzessin«, sagte sie.
»Ich fühle mich aber nicht wie eine Prinzessin, Mama.«
»Das wird sich ändern«, prophezeite sie. »Lass den Mann nicht hier warten. Los mit dir. Es sieht aus, als könnte es jeden Augenblick anfangen zu regnen.«
»Mama …«
»Alles wird gut, Schätzchen. Alles wird gut. Ich gebe dich zurück, aber ich gebe dich nicht weg, mein Schatz«, sagte sie.
Ich umarmte sie fest, so fest, dass sie wohl dachte, ich würde sie nie wieder loslassen.
»Nun geh«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Nimm dir, was du kriegen kannst, nur zu.«
Sie löste mich von ihr. In ihrem verschlossenen Gesicht zeichnete sich all die
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