Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
Richard beobachtete sie voller Verachtung und sagte schließlich: »Das reicht, Leonora.« Als sie nicht sofort aufhörte, kommandierte er: »Genug!«
Ihre Schluchzer verringerten sich zu Keuchen wie ein kleiner Motor, dem das Benzin ausgeht, und auch ihr Zittern ließ nach. Sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch und warf mir einen Blick zu.
»Wir haben es mit Trauer, Tragik und Schande zu tun, fast zu gleichen Teilen«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, wo ich in diesem hässlichen Chaos anfangen soll.«
»Es war nicht meine Idee, alles geheim zu halten«, sagte ich. »Großmutter Hudson hielt es im Augenblick für das Beste.«
»Großmutter Hudson! Oje, oje, oje«, stöhnte Großtante Leonora.
»Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie Abstand davon nehmen würden, sie so zu nennen, solange Sie noch hier bei uns sind«, sagte Großonkel Richard. »Wir konnten die Peinlichkeit geheim halten und es in diesem Haus für uns behalten, ich muss jedoch unbedingt wissen, wer noch die Wahrheit über Sie kennt. Ich meine natürlich, wer noch in England? In Amerika ist das nicht so wichtig, aber
hier ist ein guter Ruf wichtiger als ein großes Bankkonto.«
Ich starrte ihn an und versuchte zu entscheiden, was Großmutter Hudson jetzt von mir erwartet hätte: einfach aufzustehen und hinauszugehen oder ihm alles zu erzählen? Ich entschied, dass es jetzt wenig Unterschied machte. Es war klar, dass sie mich hier nicht wollten, und mir war nichts lieber, als abzureisen.
»Mein leiblicher Vater«, sagte ich und genoss den schockierten Gesichtsausdruck auf ihren Gesichtern.
»Was soll das denn heißen? Leiblicher Vater?« Er zog eine Grimasse. »Ich spreche von England«, erklärte er herablassend, als ob in England solch ein Vater niemals existieren konnte.
»Und ich wiederhole, mein leiblicher Vater. Er lebt hier, und zwar schon seit einiger Zeit.«
Niemand sprach ein Wort. Großonkel Richard wirkte einen Moment sprachlos, und Großtante Leonora saß völlig entgeistert mit offenem Mund da.
»Dieser Mann, dieser leibliche Vater ist der Mann, mit dem unsere Nichte Megan …« Er wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte er so seinen Gedanken beenden. Es war unter seiner Würde, mehr zu tun, als auf die Affäre meiner Mutter vage anzuspielen.
»Genauso funktioniert das«, sagte ich. »So kommen Babys auf die Welt.«
»Seien Sie nicht unverschämt«, fauchte er, schaute aber rasch beiseite. Ich fragte mich allmählich, was
ihm am meisten Kummer bereitete: die Tatsache, dass ich eine Verwandte war, oder dass er eine Verwandte in seine Fantasien im Cottage einbezogen hatte? Ich war versucht, ihn das zu fragen, ihn mit hitzigen gemeinen Worten zu bombardieren, aber ein Blick auf Großtante Leonora bremste meine Wut. Es würde sie nur zu weiteren hysterischen Anfällen treiben, und ich hatte keinerlei Grund, sie zu bestrafen.
»Nun«, fuhr er fort, als er plötzlich durch diese Neuigkeiten Auftrieb bekam, »hat dieser Mann angeboten, Sie aufzunehmen?«
»Nein. Er hat eine eigene Familie hier.«
»Ich verstehe.« Er zog eine Grimasse und nickte. »Tatsächlich habe ich so etwas erwartet.«
»Es ist nicht so, wie Sie das andeuten«, widersprach ich. »Er ist ein geachteter Mann, ein Universitätsprofessor. Ich will nicht diejenige sein, die seine Familie ruiniert«, sagte ich.
»Nein? Stattdessen wollen Sie unsere ruinieren, ja?«
»Ich will keine Familie ruinieren. Ich habe nicht darum gebeten, so geboren, dann verkauft und schließlich wieder zurückgegeben zu werden«, sagte ich.
»Verkauft?« Großtante Leonora schaute ihren Mann an. »Ich verstehe nicht, was sie damit meint, Richard.«
»Das ist jetzt nicht wichtig. Diese Einzelheiten wollen wir uns ersparen«, wehrte er ab. »Wir haben genug, mit dem wir uns im Augenblick beschäftigen
müssen.Während wir uns unterhalten, lasse ich gerade arrangieren, dass wir alle zur Beerdigung nach Virginia fliegen. Da Sie im Testament bedacht werden, müssen Sie natürlich anwesend sein. Bestimmt macht es Ihnen nichts aus, deswegen die Schule zu verlassen.«
»Ich gehe, weil ich gerne dort sein möchte. Großmutter Hudson hat mir sehr viel bedeutet.« Ich wirbelte herum zu Großtante Leonora, bevor sie stöhnen konnte. »Und ich werde sie nie mehr anders nennen. Die Wahrheit ist endlich heraus, und damit hat sich das«, sagte ich entschlossen.
Sie sah aus, als würde sie wie ein Stück Porzellan in winzige Scherben zerbrechen.
»Sie werden nicht hierher
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