Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
zurückkommen«, sagte Großonkel Richard. »Nehmen Sie alles mit, das Ihnen gehört.«
»Gut«, sagte ich.
»Oje, oje«, stöhnte Großtante Leonora. »Was hat sich Megan nur dabei gedacht, ein Kind von einem Schwarzen zu bekommen?«
»Sie war schon immer wild«, klagte Großonkel Richard. »Ich habe deine Schwester jedes Mal, wenn ich sie sah, gewarnt, dass sie zu nachgiebig seien, aber so ziehen die Amerikaner nun mal ihre Kinder groß«, dozierte er, »viel zu liberal. Sobald man Ordnung, Anstand, einen Sinn für das Erbe aufgibt …«
»Fängt man an, so zu tun, als sei man jemand anders?«, fragte ich spitz. »Gibt sich Illusionen und Spielchen hin?«
Er wurde ein wenig rot, behielt aber seine Haltung bei und schaute mich weiter an.
»Es hat keinen Zweck, weiter darüber zu reden. Wir fliegen heute Abend mit der Acht-Uhr-Maschine. Packen Sie Ihre Sachen zusammen. Das ist alles, was ich jetzt dazu zu sagen habe«, fügte er hinzu, um die Unterhaltung ein für alle Mal zu beenden.
»Sie wollen nicht, dass ich Ihnen das Abendessen serviere?«, fragte ich mit vor Sarkasmus strotzender Stimme.
»Wohl kaum«, sagte er.
»Ich will gar nichts essen«, murmelte Großtante Leonora. »Meine Schwester ist von uns gegangen. Ich habe keine Familie mehr«, jammerte sie und wiegte sich auf ihrem Platz hin und her.
»Du hast zwei Nichten, eine Großnichte und einen Großneffen«, erinnerte ihr Mann sie.
»Zwei Großnichten«, sagte ich.
Sie schaute mich an. Die ganze Sache wurde ihr allmählich klar, und sie wusste nicht, was sie sagen oder empfinden sollte. Endlich spürte jemand, was ich durchgemacht hatte.
»Was für eine unglaubliche Katastrophe«, murmelte Großonkel Richard, als er aufstand. »Wie lautet das Sprichwort noch, das die Amerikaner so lieben? Man kann sich seine Freunde aussuchen, aber nicht seine Verwandten?«
»Genauso empfinde ich das auch«, sagte ich und marschierte hinaus. Ich ging in mein Zimmer, um alleine um Großmutter Hudson zu trauern. Irgendwie
wusste ich an jenem Tag, als ich nach England aufbrach und ihr zum Abschied zuwinkte, dass es ein Abschied für immer war. Ich glaube, sie wusste es auch. Deshalb standen wohl Tränen in ihren Augen. Sie war zu selbstbewusst, um bei Trennungen zu weinen. Sie war nur deshalb so traurig, weil sie wusste, dass sie mich nie wiedersehen würde.
Ich musste nicht in der Schule anrufen, um Mr MacWaine zu bitten, Roy Bescheid zu sagen. Als ich nicht auftauchte, machte er sich auf die Suche nach mir, fand Mr MacWaine und erfuhr die Neuigkeiten. Kurz danach erschien er an der Haustür der Endfields. Ich hatte fertig gepackt, als ich Leos charakteristisches Hinken hörte, das im Flur widerhallte.
»Ihr Bruder ist hier«, teilte er mir mit, als ich zur Tür hinausspähte.
»Danke, Leo. Warum haben Sie ihn nicht einfach hierher geschickt?«
»Mr Endfield bat darum, Sie zu holen«, sagte er. Er wirkte verlegen. »Tut mir Leid. Der junge Mann wartet draußen.«
»Er wollte ihn nicht hereinlassen?«
Leo antwortete nicht. Das war auch nicht nötig. Ich fegte den Gang entlang ins Vorderhaus. Mein Großonkel saß in seinem Arbeitszimmer am Telefon und bereitete weiter die plötzliche Abreise vor. Er schaute mich kurz an und wandte mir dann den Rücken zu, während er weitertelefonierte.
Vor Zorn rauchend, hechtete ich praktisch zur Haustür. Roy stand vor dem Haus, die Mütze in der Hand. Erwartungsvoll schaute er auf, als ich auftauchte.
»Es tut mir Leid, Roy. Sie sind stolz darauf, so höflich und anständig zu sein, während sie in Wirklichkeit die grausamsten, gemeinsten …« Ich starrte zum Haus zurück. Wenn meine Augen Kanonen wären, würde das Gebäude jetzt weggefegt. »Sie sind grauenhaft, jetzt wo sie erfahren haben, dass ich mit ihnen verwandt bin. Großmutter Hudson hatte Recht in Bezug auf sie. Sie haben Angst, ihr kostbarer Ruf könnte Schaden leiden. Sie sollten wissen, wie grässlich das für mich ist, mit ihnen verwandt zu sein.«
Ich schlang die Arme um mich und kickte einen kleinen Stein die Auffahrt hinab.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er, offensichtlich verblüfft über meine nackte Wut.
»Ich fliege heute Abend zur Beerdigung nach Virginia zurück. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir davon zu erzählen, aber Großmutter Hudson hat mich in ihrem Testament bedacht. Ich weiß noch nicht, was das alles bedeutet, aber eins ist klar, meine Mutter kann mich nicht länger verleugnen und so tun, als existierte ich
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