Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
ging ich schnell ins Haus und direkt in mein Zimmer. Als ich die Tür öffnete, fand ich einen Brief vor, der darunter durchgeschoben worden war. Er war an mich adressiert und kam aus Deutschland. Roy hatte endlich geschrieben.
Ich drehte ihn um und betrachtete den Umschlag eingehend. Er sah aus, als sei er geöffnet und wieder verschlossen worden. Es machte mich einfach wütend, dass meine Post gelesen worden war. Im Augenblick war ich jedoch mehr an dem interessiert, was in dem Umschlag steckte. Deshalb setzte ich mich auf mein Bett und öffnete ihn langsam.
Liebe Rain, als ich deinen Brief bekam, ließ ich ihn verschlossen, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Als ich deine Handschrift sah, trat mir dein Gesicht vor Augen. Ich las deinen Brief immer wieder. Einige meiner Kumpel glaubten vermutlich, ich wollte etwas Wichtiges auswendig lernen. Auf jeden Fall bin ich froh, dass du bist, wo du hinwolltest, und das Leben dort nicht so übel ist. Ich wette, du hast bereits haufenweise neue Freunde und großen Erfolg in der Schule. Ich habe vor, bald meinen ersten Urlaub zu nehmen, und jetzt, da ich genau weiß, wo du steckst, werde ich vorbeikommen, um dich zu besuchen. Ich hoffe, du wünschst dir mindestens halb so dringend wie ich, mich zu sehen. Dein Bild hängt über meinem Bett.Wenn jemand mich danach fragt, sage ich ihm, du seist mein Mädchen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus. Du bist
mein Mädchen. Das warst du schon immer, und das weißt du. Manchmal lege ich mich hin und erinnere mich und denke daran, wie du aufgewachsen bist, und besonders daran, wie du mich immer angeschaut hast. Natürlich fällt mir besonders ein Nachmittag ein, als ich dir sagte, was du mir wirklich bedeutest und – also ich kann es nicht einmal schreiben, aber du weißt, welchen Nachmittag ich meine. Mein Gott, ich kann gar nicht glauben, dass ich so viel geschrieben habe, vermutlich mehr als während meiner ganzen Schulzeit. Ich sehe, wie du lächelst und darüber lachst, wenn du das liest. Ich will nicht dauernd das Gleiche sagen, deshalb unterschreibe ich jetzt einfach und hoffe, dass du in deinem Herzen ein kleines Plätzchen für mich hast.
Ich wollte gerade unterschreiben und den Brief zukleben, als ich plötzlich an Mama und dich und Beni denken musste und daran, wie all die Tage von früher in meinem Kopf zusammenkommen. Ich vermisse sie. Wenn du nicht wärst, würde ich mich so einsam fühlen, wie ein Mensch nur sein kann. Ich wollte, dass du das weißt.
Ich rede wirklich pausenlos.
Tschüs.
In Liebe,
bis bald,
dein Roy
Ich faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Dann lag ich da und dachte an Roy und Mama und auch an Beni. Meine
Augen füllten sich mit Tränen. Ich wollte Roy so gerne sehen, aber ich wusste, er hoffte, ich würde ihm sagen, dass ich ihn ebenso liebte wie er mich, und darüber war ich ganz verwirrt. Für zu lange Zeit war er mein großer Bruder gewesen. Es war nicht leicht, jetzt nicht mehr so an ihn zu denken. Ich hatte versucht, ihm das zu erklären, aber er hatte sich geweigert, das zu akzeptieren. Es gab niemanden auf der Welt, den ich mehr zu verletzen fürchtete als Roy.Vermutlich hatte ich gehofft, dass er mittlerweile eine andere gefunden und das Problem sich von selbst gelöst hätte, aber offensichtlich war das nicht der Fall.
Wie seltsam das war, dass es Leute gab, die ich lieben wollte, aber nicht konnte, und Leute, die mich liebten und es nicht sollten. Das Schicksal hielt mich zum Narren, ließ mich vor all diesen Spiegeln hinund herbaumeln, so dass ich, während ich mich langsam drehte, sehen konnte, wie ich kämpfte. Wann würde das enden? Wann würde ich aufhören herumzuwirbeln?
Seelisch erschöpft musste ich wohl eingeschlafen sein. Plötzlich spürte ich, wie mein Körper zuckte, und ich öffnete die Augen in völliger Dunkelheit. Einen Augenblick war ich verwirrt, wusste nicht, wie viel Uhr und was für ein Tag es war. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr und fuhr hoch wie ein Stehaufmännchen. Ich hatte das Abendessen verschlafen. Wie konnte das passieren? Warum hatte Boggs nicht gegen meine Tür gehämmert? Ich hatte
sie jetzt abgeschlossen, aber dennoch hätte er klopfen können, bis er mich aufgeweckt hätte. Er war bestimmt nicht schüchtern. Vielleicht wollte er auch, dass ich etwas schlecht machte, damit die Endfields mich loswerden konnten.
Ich schaltete meine Lampe an und strich mir schnell über das Haar und die Kleidung. Dann
Weitere Kostenlose Bücher