Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
Großonkel Richard zog die Hand heraus und umarmte sie.
»Na, na, hab keine Angst, Heather. Ich habe doch nur so getan. Deine Mutter wird mir vorwerfen, dass du Alpträume davon bekommst.«
Er streichelte ihr übers Haar und ließ dann ihren Kopf wieder auf das Kissen sinken. Sie schaute zu ihm hoch, als er ihr den Lutscher aus der Hand nahm und auf einen Teller auf dem Nachttisch legte.
»Ich glaube, du wirst müde«, meinte er. Sie schloss die Augen, öffnete sie mit flatternden Lidern und schloss sie wieder. Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Stirn.
»Wir lesen das morgen zu Ende. Es passiert noch so viel. Aber keine Sorge! Dolly kommt sicher wieder
nach Hause zu ihrer Mutter, nachdem sie noch einige Abenteuer überstanden hat. In Ordnung?«
Mary Margaret nickte kaum merklich.
Großonkel Richard stand auf, stopfte die Decke rund um sie fest und küsste sie noch einmal, diesmal auf die Wange. Er stellte die Spieluhr ab und knipste die Lampe aus. Dann stand er eine ganze Weile da und schaute auf sie herab, bevor er das Zimmer verließ.
Der Regen, der den ganzen Tag gedräut hatte, kam plötzlich in einem leichten Nieseln herunter, aber ich konnte mich nicht rühren. Meine Beine waren wie erstarrt und verkrampft, meine Brust schmerzte, weil ich so lange die Luft angehalten hatte. Gerade als ich mich durch die Hecke hindurcharbeiten wollte, ging das Licht wieder an und Mary Margaret stieß die Decke beiseite. Sie trug ein Nachthemd, das ihr kaum bis zu den Oberschenkeln reichte. Ich war wie hypnotisiert. Ich konnte mich keinen Zentimeter bewegen, obwohl die Tropfen dicker wurden und immer schneller fielen.
Sie stand auf und ging zum Schrank. Ich sah, wie sie das Nachthemd auszog und ihre eigenen Kleider anzog. Nachdem sie sich angezogen hatte, schaltete sie die Lampe aus und verließ das Schlafzimmer. Ich drängte mich in den Schatten, dicht an das Cottage, um aus dem Regen zu bleiben, und kauerte mich noch tiefer hin, als ich hörte, wie die Cottagetür sich öffnete und schloss. Wenige Augenblicke später durchquerte Mary Margaret rasch den Garten. Sie
hatte einen Schirm dabei und steuerte auf die Vorderseite des Hauses zu. Ein paar Sekunden später sah ich, wie die Limousine der Endfields mit Boggs am Steuer davonfuhr.
Ich wartete noch etwa dreißig Sekunden, dann stand ich auf, um zu gehen, und hatte das Gefühl, meine Beine hätten sich in Blei verwandelt. Mit schwerfälligen, aber schnellen Schritten eilte ich zum Hintereingang des Hauses zurück und ging hinein. Ich spürte, wie mein Blut sich beruhigte, die Kälte nachließ, aber mein Herz raste immer noch und mein Hals fühlte sich an, als sei ein Schrei dort stecken geblieben. Nachdem ich tief Luft geholt hatte, verschwand dieses Gefühl. Ich ging den Flur entlang auf mein Zimmer zu.
Mein Morgenmantel war durchnässt und mein Haar ebenfalls. Ich holte mir einen trockenen, sauberen Morgenmantel, kehrte ins Badezimmer zurück und trocknete mich ab. Allmählich spürte ich, wie die Kälte aus mir wich, und ging in mein Zimmer zurück. Ich schaute aus dem Fenster. Das Cottage lag jetzt völlig dunkel da. Der Regen fiel schneller und stärker, klopfte einen hektischen Trommelwirbel auf mein kleines Fenster. Das passte zum Rhythmus meines Herzens. Ich zog den Vorhang zu und verzog mich in mein Bett, begierig, endlich unter die Decke zu kommen. Mein Zittern wurde jetzt von meinen Gedanken und nicht von der kalten Luft hervorgerufen.
Wie seltsam, traurig und beängstigend das war. Ich
konnte nur raten, wie lange das schon so ging. Konnte ich Großonkel Richard nach dem, was ich gesehen hatte, je wieder wie früher anschauen? Genügte ihm ein Blick auf mich und er wusste, dass ich ihm und Mary Margaret hinterherspioniert hatte? Und was war mit ihr? Würde sie es ebenfalls wissen? Zwang er sie, das zu tun, oder wollte sie es?Vielleicht zahlte er ihr etwas extra dafür.
Der Regen peitschte weiter gegen das Haus. Staccatoschläge auf die Wände und das Dach klangen wie Trommeln, die mich auf die Alpträume zutrieben, welche begierig darauf warteten, in meine Traumwelt eingelassen zu werden, sobald ich die Augen geschlossen hatte. Ich hatte Angst einzuschlafen.
Wohin war ich geschickt worden? Ja, diese Leute waren reich und hoch geachtet. Sie hatten gesellschaftlichen Umgang mit der königlichen Familie und hielten sich an Stätten von Macht und Prestige auf. Sie kleideten sich korrekt, sprachen perfekt und erweckten den Anschein, als ob alles,
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