Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
das sie taten und was für sie getan wurde, völlig normal sei.
Aber sie lebten in einem Haus mit einer dunklen Geschichte. Sie hatten es restauriert und modernisiert, aber sie hatten ihre eigenen Gespenster mitgebracht, die Seite an Seite mit denen lebten, die angeblich in diesem Gemäuer eingesperrt worden waren. Ein Fluss des Schmerzes durchströmte diese üppig ausgestatteten und eingerichteten Räume.
Im Gegensatz zu dem, was sie sagten und wie sie
lebten, waren meine Großtante Leonora und mein Großonkel Richard offenbar außer Stande, ihren tragischen Verlust zu akzeptieren. Als ich jetzt in meinem warmen Bett lag und in Ruhe nachdenken konnte, ängstigte mich das alles immer weniger. Mitleid und Ironie traten an die Stelle des Entsetzens, das ich in den Schatten vor jenen Cottagefenstern erlebt hatte. Durch ihr scheinbar perfektes englisches Leben versuchten sie einen Schutzwall um sich herum aufzubauen, um ihren Schmerz auszublenden und ihre Geheimnisse wegzuschließen. Es funktionierte nicht.Vermutlich hatte es nie funktioniert und würde es auch nie.
Die Wahrheit war so kraftvoll und so beharrlich wie Wasser. Es drang durch jede noch so kleine Öffnung ein, und jeder Versuch, die Löcher in ihren Herzen zu verstopfen, würde fehlschlagen, denn es würde sich ganz einfach ein anderes Loch bilden, bis all diese Mauern einstürzten, die Wahrheit hereinflutete und all die Fassaden wegschwemmte. Es gab keine Fassade auf der Welt, die erfolgreich verbergen konnte, was das trügerische Herz wusste. Die Lektüre Shakespeares hatte mich das gelehrt.
Meine Großtante und mein Großonkel brauchten doch nur ihren Schmerz zugeben. Großonkel Richard versuchte verzweifelt, den Schmerz mit Hilfe seines geheimen Cottage zu ignorieren, aber eines Tages würde es bestimmt um ihn herum zusammenbrechen, und das wäre noch schlimmer, deshalb empfand ich Mitleid für ihn.
Die Ironie lag in der Erkenntnis, wie verzweifelt manche Eltern sich an ihre Kinder und die Erinnerungen an sie klammerten, wohingegen meine versucht hatten, meine bloße Existenz zu verleugnen. Wenn Großonkel Richards Tochter jetzt vor ihm auftauchen könnte, würde sein Herz vor Freude bersten.Was würde das Herz meinesVaters tun, wenn ich auftauchte? Würde es sich in seiner Brust winden, sich zusammenballen wie eine Faust?
Seltsam, obwohl die Szene im Cottage so absonderlich war, konnte ich doch nicht anders als eifersüchtig sein. Ich hatte nie einen Vater gehabt, der auf meiner Bettkante saß und mir vorlas. Ich hatte nie einen Vater, der mir die Decke feststopfte, mich auf die Wange küsste und mir süße Träume wünschte. Ich hatte nie einen Vater gehabt, der mir das Gefühl von Sicherheit und Liebe vermittelte, der mich beschützte vor den Dämonen, die vor meinem Fenster tanzten. Einen Augenblick lang wünschte ich fast, ich wäre Mary Margaret, die nur so tat, aber die Liebe spürte, nach der ich mich so sehnte.
Was würden meine ersten Worte an meinen leiblichen Vater sein? Sollte ich ihn fragen, wie er vorhatte, es an mir wieder gutzumachen? Sollte ich ihn bitten, Ersatz zu leisten für all die langen, einsamen Nächte? Sollte ich ihn hassen oder lieben?
Vielleicht sollte ich ihn zum Cottage der Träume schleppen und ihn zwingen, mir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. In meinem tiefsten Herzen glaubte ich, mein Großonkel Richard würde vielleicht
besser als jeder andere verstehen, warum ich das tun wollte. Er würde mich deshalb nicht auslachen oder verdammen.Vielleicht schickte er sogar Boggs mit der Limousine, um meinen Vater abzuholen und ihn hierher zu bringen.
»Sie haben eine Tochter, die Sie all die Jahre verleugnet haben?«, würde er ganz erstaunt sagen. »Warum? Warum erhielten Sie die Gelegenheit, eine Tochter zu haben und zu verleugnen, während mir meine eigene, für die ich so dankbar war, genommen wurde? Warum?«
Wo waren die Antworten auf all diese Fragen? Sollte ich mir überhaupt die Mühe machen, nach ihnen zu suchen, oder sollte ich weitermachen wie so viele Menschen, die ich jetzt kannte, und so tun, als gäbe es keine Fragen? Blieb mir überhaupt eine Wahl?
Vor langer Zeit warf sich eine schöne junge Frau impulsiv und achtlos in die Arme eines gut aussehenden, intelligenten Schwarzen, der irgendwie ihr Herz gewonnen hatte. Sie waren zu leidenschaftlich, um sich um irgendetwas anderes zu kümmern als ihr eigenes Bedürfnis, sich lebendiger zu fühlen. Er pflanzte seinen Samen in sie und sie setzte mich eher
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