Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
vom Scheinwerferlicht, konnte ich kaum ein Gesicht ausmachen, was gut war.
»Sie trugen ihn auf einer Bahre bloß« , begann ich und sang:
»Trallala,
Und manche Trän’ fiel in Grabes Schoß -
Fahr wohl, meine Taube!«
Die Wahnsinnsszene dauerte nicht länger als ungefähr fünf Minuten. Ich überquerte die Bühne von einer Seite zur anderen, und als ich die Seitenkulisse auf der gegenüberliegenden Seite betrat, hatte ich das Gefühl, barfuß über ein Nagelbrett gelaufen zu sein.
Der darauf folgende Applaus war fast so laut wie der für Philip Roder. Mr MacWaine wartete dort auf mich, um mich zu begrüßen.
»Das war dein Debüt«, verkündete er. »Hörst du das?«, fragte er und meinte den Beifall. »Behalt das gut in Erinnerung. Das wirst du noch sehr, sehr oft hören, meine Liebe«, versprach er.
Hinter ihm stand Randall und strahlte. Laut Terminplan sollte er in wenigen Augenblicken sein Solo singen.
»War ich wirklich gut?«, fragte ich.
»Du hast ausgesehen und geklungen, als wärst du dazu geboren, im Rampenlicht zu stehen«, sagte Randall. Er hauchte mir ein schnelles Küsschen auf die Wange und schritt in Hochstimmung über meine Darbietung auf die Bühne hinaus. Er sang wunderschön. Als alle Darbietungen vorüber waren, schwebte Mr MacWaine vor Glück auf Wolken, dass seine Füße kaum den Boden berührten.
»Das war eine der besten Vorführungen, die in dieser Schule je stattgefunden haben«, erklärte er.
Sarah Broadhurst schnitt eine solche Grimasse, dass sie aussah, als litte sie Schmerzen.
Hinterher bei unserem Empfang mit Tee und Kuchen erschien Mr MacWaines Einschätzung gerechtfertigt. Die Leute scharwenzelten um uns herum und machten so viele Komplimente, dass ich mich eines sündigen Stolzes schuldig fühlte. Meine Großtante sonnte sich in dem großen Lob, das ich erhielt, erklärte mindestens ein halbes Dutzend Mal, dass ich ihr Au-pair-Mädchen aus Amerika sei. Mein Großonkel Richard war reserviert wie immer, aber mir fiel auf, dass er mich anders anschaute. Zweimal erwischte ich ihn im Laufe des Abends dabei, dass er mich anstarrte, als ob ich mich in Cinderella verwandelt hätte. In seinen Augen funkelte Respekt, Anerkennung, obwohl er das weder mit seiner Stimme noch mit seinem Verhalten je verriet.
Hinterher, als wir im Wagen nach Hause fuhren, lieferte er mir eine detailliertere Kritik meiner Darbietung.
»Die Schule lehrt euch Haltung, Kontrolle. Ich war beeindruckt von Ihrer Bühnenstimme, Ihrer Aussprache. Und ich fand, dass Sie Ihren Körper ziemlich gut einsetzten. Für eine amerikanische Jugendliche, die einen englischen Klassiker aufführt, heißt das«, schränkte er ein.
»Was für eine Schande, dass Ihre Eltern nicht mehr leben und Sie sehen können«, meinte Großtante Leonora. »Bestimmt wären ihre Herzen vor Stolz geborsten.«
»Sie ist doch jetzt viel zu alt für so etwas, Leonora. Was sie erreichen muss, ist die Köpfe und Herzen völlig Fremder zu gewinnen, wenn sie eine Bühnenkarriere machen will«, erklärte Großonkel Richard.
»Dennoch ist es bei Gelegenheiten wie diesen schön, die Familie um sich zu haben«, seufzte sie sehnsüchtig.
Großonkel Richard schien verärgert über sie zu sein, denn er wandte sich ab und schwieg.Von Zeit zu Zeit warf er mir jedoch auf dem Weg zum Endfield Place verstohlene Blicke zu. Ich konnte seinen Blick spüren, und wenn ich ihn anschaute, wandte er den Blick stets ab und starrte aus dem Fenster. Sobald wir das Haus erreichten, verschwand er schnell in seinem Arbeitszimmer.
»Ich weiß, dass du müde sein musst, meine Liebe«, sagte Großtante Leonora. »Diese Dinge erschöpfen einen emotional so sehr. Ich wüsste um mein Leben nicht, warum jemand Karriere auf der Bühne machen will. Das Leben ist doch schon eine Bühne.«
»Das hat Shakespeare ja auch gesagt«, teilte ich ihr mit.
»Natürlich ist es das«, sagte sie, obwohl ich mir sicher war, dass sie nicht wusste, was ich meinte. »Warum, glauben Sie, habe ich das gesagt? Ich werde meiner Schwester ganz bestimmt schreiben und ihr von Ihrem großen Erfolg berichten«, fügte sie hinzu, lachte nervös und ging in ihr Zimmer.
Randall hatte mit mir nach dem Empfang ausgehen wollen, aber ich fand, es gehörte sich nicht,
die Endfields zu verlassen, nachdem sie die Aufführung besucht hatten. Stattdessen zog ich mich in mein Zimmer zurück, machte mich fertig fürs Bett, lag dann dort und sonnte mich in meinen jüngsten Erinnerungen: dem Applaus, wie ich
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