Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
und so tun, als sei er nie geschehen.«
»Taten Sie nicht das Gleiche?«, gab ich zurück.
Er schwieg einen Moment und nickte dann.
»Ja«, gab er zu. »Das tat ich. Ich muss sogar gestehen, dass ich Everett Hudson dankbar war. In meiner Situation konnte ich kein Kind großziehen. Ich hatte selbst kaum genug, um zu überleben, und Everett hätte nie gestattet, dass Megan mich geheiratet hätte, oder uns irgendetwas außer Hass und Zorn geschenkt, wenn wir uns darüber hinweggesetzt hätten.
Trotz all unserer so genannten Intelligenz und Bildung waren wir doch die reinsten Kinder. Keiner von uns war alt genug, das Richtige zu tun.«
»Sie waren nur alt genug, das Falsche zu tun«, sagte ich.
Er zwinkerte, als hätte ich ihn geschlagen.
»Ich verstehe Ihren Zorn«, sagte er leise.
»Wirklich? Sie lesen vielleicht über solche Dinge in Ihren netten Shakespeare-Dramen, da bin ich mir sicher, aber haben Sie eineVorstellung davon, wie das für mich sein muss, niemanden zu haben, keine echten Wurzeln, keine Identität? Manchmal habe ich das Gefühl, unsichtbar zu sein, als wäre ich eine Art Geist, der nie einen Körper besaß.«
Sein Blick wurde schärfer, aber er wirkte nicht gekränkt, sondern anerkennender, fast stolz.
»Sie sind eine junge Dame, die sich sehr gut auszudrücken weiß. Eine gute Schülerin, wette ich.«
»Ja. Ich habe hart dafür gearbeitet, weil ich sah, wie sehr das meiner Adoptivmutter gefiel.«
»Das ist gut. Aber Sie haben nicht ganz Recht mit Ihrer Einschätzung über mich und mein Verständnis für Ihre Situation. Megan hat Ihnen nicht alles über mich erzählt. Ich war selbst eine Art Waise. Meine Eltern trennten sich, kurz nachdem ich geboren worden war, und ich landete bei meiner Großmutter. Allerdings war sie krank und starb nach etwas über zwei Jahren. Ich wurde dann von einem Onkel an den anderen zur Pflege weitergegeben und schließlich zu einer Tante, die ironischerweise in Richmond lebte, nicht so weit von dort entfernt, wo Megan aufwuchs.
Ich habe mich oft gefragt, wer ich selbst bin, was meine Identität ist. Ich kam zu dem Schluss, dass es etwas ist, das man für sich selbst schaffen muss. Sie sind nicht ich oder Megan oder Ihre Adoptivmutter, und Sie sollten es auch nicht sein. Sie sollten Sie selbst sein, und so wie es aussieht, sind Sie auf dem besten Wege.«
»Eine nette Rationalisierung«, sagte ich. »Auf diese Weise ist niemand verantwortlich, niemand schuldig, jeder kann fröhlich so weitermachen.«
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Ich muss gehen. Ich darf nicht zu spät kommen.«
»Zu spät für was? Was machen Sie?«
»Ich helfe bei meiner Großtante und meinem Großonkel im Haushalt.«
»Und sie wissen nicht, wer Sie wirklich sind?«
»Nein.«
»Werden Sie es ihnen sagen?«
»Das liegt nicht bei mir. Das muss Großmutter Hudson entscheiden. Sie sagt, im Augenblick sei es besser, wenn sie es nicht wissen. Es könnte ihnen peinlich sein und vielleicht bitten sie mich zu gehen.«
»Ich verstehe. Kann ich Sie wiedersehen?«, fragte er rasch. »Wie wäre es, wenn Sie am Sonntag zum Tee zu mir nach Hause kommen?«
»Sie werden Ihrer Familie von mir erzählen?«
»Nein«, sagte er. »Nicht sofort. Ich hoffe, das verstehen Sie.«
KAPITEL 11
Auf schwankendem Boden
D as Wetter wechselte rasch, bevor ich meine Heimatstation mit der U-Bahn erreichte.Wieder einmal hastete ich mit gesenktem Kopf dahin und versuchte jeden Häuservorsprung zu nutzen, damit ich nicht klatschnass am Endfield Place eintraf. Wann würde ich lernen, dass es in England fast ebenso notwendig war, einen Schirm mitzunehmen wie Schuhe zu tragen?
Plötzlich machte mich alles an diesem Land wütend. Warum mussten sie auf der falschen Straßenseite fahren? Warum hatten sie all diese albernen Ausdrücke? Alle um mich herum wirkten ebenso unzufrieden, eilten mit strengem, mürrischem Gesichtsausdruck hin und her. Am liebsten wäre ich an der nächsten Ecke stehen geblieben und hätte laut geschrien.
Als ich noch etwa zweihundert Meter vor mir hatte, wurde der Regen heftiger. Als ob Gott einen Eimer Wasser über mir ausschüttete, um mich aus meinem Elend zu reißen oder vielleicht auch tiefer hineinzustoßen. Laufen half anscheinend nicht, da ich in Pfützen platschte und dadurch noch mehr
Unheil anrichtete. Ich hörte auf, dem Regen auszuweichen, und schlenderte die verbleibende Entfernung lässig dahin. Manche Leute, gut geschützt
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