Die Hudson Saga 03 - Dunkle Träume
Bienenschwarm.
Da ich im Augenblick alleine in diesem Herrenhaus lebte, konnte ich förmlich hören, wie die Lügen umhersummten. Bald würden sie uns stechen und uns dann noch größere Schmerzen verursachen, aber jeder in dieser Familie konzentrierte sich nur auf die eigenen Interessen und hatte einen Tunnelblick. Sie sahen es nicht. Mama Arnold pflegte immer zu sagen, niemand ist so blind wie diejenigen, die sich weigern zu sehen, die beiseite oder zu Boden schauten oder lieber ein Fantasiegebilde betrachteten als die Wahrheit. Diese Familie
schoss dabei den Vogel ab, von den seltsamen Fantasien meines Großonkels in seinem Londoner Cottage bis zur Weigerung meiner Mutter, der Realität ins Gesicht zu sehen. Stattdessen kaufte sie sich beim geringsten Anzeichen von Widrigkeiten oder Stress lieber etwas Neues zum Anziehen.
Meine Tante Victoria murrte über sie, beklagte sich und nannte sie eine zweite Scarlett O’Hara, weil sie immer sagte: »Darüber mache ich mir morgen Gedanken.« Morgen, morgen – dazu kam es jedoch nie, wie Victoria gerne jeden erinnerte.
Ob meine Mutter sich dem jetzt stellte oder nicht – für diese Familie war das Morgen gekommen. Großmutter Hudson hatte dafür gesorgt, dass dies durch ihr Testament geschah. Noch im Tode, vielleicht besonders im Tode schwebte sie über ihrer Familie, schaute stirnrunzelnd auf sie herab und verlangte, dass sie endlich die Verantwortung übernahmen für ihre Taten, für das, wer sie waren und was sie waren.
Ich würde das alles nicht aufhalten, aber meine Angst vor dem, was die Zukunft für mich bereithielt, konnte kaum größer sein. Ihr blieb kaum eine andere Wahl. Es stimmte, ich hatte Larry Ward, meinen leiblichen Vater, in England gefunden und seine Familie kennen gelernt. Er hatte seinen Traum verwirklicht, war Shakespeare-Forscher geworden und lehrte an einem staatlichen College. Jetzt wollte er, dass ich ihn besuchte und seine Familie traf, damit sie mich besser kennen lernten,
einschließlich seiner Frau Leanna, aber Großmutter Hudsons letzter Rat hatte gelautet, dass ich mich ihnen nicht aufdrängen sollte. Sie hatte Angst, dass sie mich zurückweisen würden. Vielleicht würde ich ihn und seine Familie ein wenig später, wenn ich selbstsicherer geworden war, noch einmal besuchen.
In der Zwischenzeit blieb mir als einziger Freund, den ich hier hatte, nur Großmutters Fahrer Jake, da mein Stiefbruder Roy noch bei der Armee in Deutschland war. Jake und ich waren uns in meiner Zeit hier auch sehr nahe gekommen. Eines Tages hatte er mich damit überrascht, dass er mich zu seinem neuen Rennpferd brachte, das er nach mir genannt hatte.
Jake verband eine lange Geschichte mit dieser Familie und diesem Besitz. Dieser hatte früher seiner Familie gehört, aber sein Vater hatte ihn vor vielen Jahren verloren und die Hudsons hatten ihn übernommen. Er war bei der Marine gewesen, hatte nie geheiratet und keine eigenen Kinder. Oft hatte ich das Gefühl, er hatte mich adoptiert.
Heute wartete er draußen auf mich, um mich zum Friedhof zu fahren. Natürlich war ich mit allen anderen zusammen schon dort gewesen, aber diesmal ging ich alleine, um mich zu verabschieden.
Nach der Beerdigung und der Eröffnung des Testamentes war ich in Großmutter Hudsons Zimmer umgezogen. Ich änderte nichts, hängte nicht einmal ein Bild um oder verschob einen Stuhl. Das
gab mir das Gefühl, sie sei noch da und passte auf mich auf.
Tante Victoria hatte Großmutter Hudsons Sachen bereits durchgesehen und dafür gesorgt, dass sie all ihren wertvollen Schmuck, ihre Uhren und sogar einiges von ihrer Kleidung bekam. Teile des Zimmers, Kommodenschubladen und Kleiderschränke wirkten völlig ausgeplündert. Die Schubladen waren so leer, dass kein einziges Taschentuch übrig geblieben war, in den Schränken herrschte gähnende Leere, selbst die Bügel fehlten.
Natürlich war ich, da ich hier gewohnt und geholfen hatte, das Haus in Ordnung zu halten, mit allem vertraut – besonders in der Küche. Ich erinnerte mich an die Mahlzeiten, die ich für Großmutter Hudson gekocht hatte, und wie sehr sie ihr geschmeckt hatten. Ihr Anwalt versorgte mich mit all den Informationen, die ich brauchte, um das Haus und den Besitz zu unterhalten. Er sagte, wenn ich wollte, könnte er diesen Teil des Besitzes weiter beaufsichtigen. Ich hatte das Gefühl, Großmutter Hudson hatte ihm viele nette Dinge über mich gesagt. Er wirkte sehr erfreut, dass ich meiner Mutter, ihrem Mann und Victoria
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