Die Hudson Saga 03 - Dunkle Träume
größerer Neugierde erfüllten. Ich sah ein
kleines Mädchen, das zusammengerollt auf einem Sofa saß, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen. Ich hörte Schluchzen durch die Wände. Meine Blicke wanderten hinunter, bis sie auf zwei Teenager stießen, die mit vor Verblüffung weit aufgerissenen Mündern lauschten. Gut gekleidete Menschen schlenderten durch die Flure in Räume, in denen üppige Büfetts aufgebaut waren. Ich hörte Geigen und eine wundervolle Stimme, die die berühmte Arie aus Madame Butterfly sang.
All das ergab nicht viel Sinn, aber ich versuchte es immer weiter, suchte nach Hinweisen, nach Antworten. Obwohl ich eine Weile in dem Haus gelebt hatte, bevor ich nach London ging, gab es noch viel, das ich erkunden konnte. Ich verbrachte Stunden in der Bibliothek, las in alten Büchern, sichtete Papiere und einiges von der Korrespondenz, die in alten Aktenschränken und Schubladen aufbewahrt wurde. Das meiste bezog sich auf verschiedene Projekte, die Großvater Hudson durchgeführt hatte. Es gab jedoch auch einige persönliche Briefe, Briefe von alten Freunden, Menschen, die in andere Landesteile oder sogar in andere Länder gezogen waren, manche von ihnen alte Collegefreunde.
Ich entdeckte, dass Großmutter Hudson eine enge Schulfreundin gehabt hatte, die geheiratet hatte und nach Savannah gezogen war. Sie hieß Ariana Keely, ihr Mann war Anwalt. Sie hatten drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Die Briefe waren voller Einzelheiten über ihre Kinder, aber es
stand nur sehr wenig darin über sie selbst und ihren Mann. Gelegentlich rutschten ihr verräterische Äußerungen heraus, und ich konnte zwischen den Zeilen lesen, dass offensichtlich weder sie noch Großmutter Hudson das Glück gefunden hatten, das sie für Menschen mit so viel Privilegien für selbstverständlich gehalten hatten.
»Wie du sagst, Frances, sind wir privilegiert«, schrieb Ariana in einem Brief, »aber anscheinend ist das nur eine Garantie für eine behaglichere Welt der Enttäuschungen voller Ablenkungen, voller Möglichkeiten, die Realität zu ignorieren.«
Das brachte mich zu der Frage, was ich denn eigentlich erwarten sollte, wenn schon jemand, der reich, mit einem hohen gesellschaftlichen Status und Privilegien geboren war, nicht glücklich sein konnte?
Ich dachte über all das nach, als Jake mich vom Friedhof nach Hause fuhr. Schon eine ganze Weile hatte keiner von uns gesprochen. Ich starrte zum Fenster hinaus, sah aber nichts. Der Himmel verfinsterte sich zusehends.
»Alles in Ordnung, Prinzessin?«, fragte Jake schließlich.
»Was? Oh ja, Jake. Mir geht es gut. Sieht aus, als gäbe es gleich einen Wolkenbruch.«
»Ja«, bestätigte er. »Ich wollte eigentlich heute Abend nach Richmond fahren, aber ich glaube, ich warte bis morgen, stehe früh auf und fahre direkt zum Flughafen, um sie abzuholen.«
Ich lehnte mich zurück. Der finstere Himmel und die Flut trauriger Erinnerungen erfüllten mich mit kalter Einsamkeit. Du bist zu jung, um dich mit einer großen Familie herumzuschlagen, sagte ich mir. Darum hatte ich nicht gebeten. Die Vorstellung, dass meine Mutter, ihr Mann und Tante Victoria sich gegen mich verschworen hatten, versetzte mich in Angst und Schrecken.
»Vielleicht sollten Sie ins Kino gehen oder so etwas, Prinzessin«, schlug Jake vor. »Ich kann vorbeikommen und Sie hinbringen, wenn Sie wollen.«
»Nein, danke, Jake.«
Er nickte.
»Haben Sie noch Kontakt zu einer von den Freundinnen aus Ihrer Schulzeit hier?«, fragte er.
»Nein, Jake«, sagte ich lächelnd. Er bemühte sich sehr, machte sich Sorgen um mich. »Im Augenblick geht es schon. Ich werde mich damit beschäftigen, mir etwas Schönes zum Abendessen zu kochen. Würden Sie gerne zum Essen kommen?«
»Wie bitte?«, fragte er.
»Ich habe ein tolles Rezept für Hühnchen mit Pfirsichen; das hat meine Mama immer gekocht.«
»Hmm. Hört sich köstlich an«, sagte er. »Um wie viel Uhr?«
»Kommen Sie so gegen sechs.«
»Soll ich etwas mitbringen?«
»Nur Ihren Appetit, Jake«, sagte ich und er lachte. »Sie wissen doch, wie viel Vorräte bei Mrs Hudson immer im Haus waren.«
Jake nickte und schaute mich im Rückspiegel an. Etwas in seinem Blick sagte mir, dass er wusste, dass ich sie Großmutter Hudson nennen sollte. Mir kam der Gedanke, dass Großmutter Hudson ihm selbst die Wahrheit gesagt haben könnte. Aber er stellte mir nie neugierige Fragen. Manchmal dachte ich, er war wie jemand an der Außenlinie, der alles mitbekam
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