Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
Wangen. Er hatte die Arme um meine Taille gelegt, und einen Augenblick lang, als hätten wir gerade eine Tür geöffnet, starrten wir in die Augen des anderen. Keiner wich vor dem unausweichlichen Kuss zurück, der zarten Begegnung unserer Lippen, der Kapitulation unseres Selbst in einer so sanften und dennoch vollkommenen Zärtlichkeit, dass ich spürte, wie mein Herz sich emporschwang. Eine Weile, nachdem wir uns voneinander gelöst hatte, hielt ich die Augen geschlossen, als würde das seine Lippen auf meinen halten und die Erinnerung für immer in mein Herz einschließen.
»Ich muss gehen«, sagte er rasch und sprang auf.
»Harley.«
»Ich gehe jetzt besser zurück und stelle mich dem Donnerwetter«, sagte er.
Als müsste er vor seinen wahren Gefühlen fliehen, eilte er davon; er rannte fast.
Dann blieb er noch einmal stehen, drehte sich um und winkte.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, rief er.
»Danke.«
Er ging weiter. Wenige Augenblicke später durchquerte er einen Schatten und tauchte auf der Veranda auf. Ich sah ihn zögern, die Tür öffnen und nach drinnen verschwinden.
Endlich.
Ich holte tief Luft.
KAPITEL 4
Die Eiche
S eit er sich ein Motorrad gekauft hatte, fuhr Harley jeden Morgen direkt hinter Daddy und mir her, wenn Daddy mich zur Dogwood School for Girls brachte. Manchmal fuhr Harley ein wenig spät los, aber er schaffte es immer, uns einzuholen, bevor wir an der Spring Creek Road abbogen. Wir fuhren nach links und er nach rechts in die öffentliche Schule. Oft drehte ich mich um und winkte, darauf hob er die rechte Hand, obwohl er den Blick nach vorne richtete, als hätte er auch Augen an der Seite des Kopfes oder könnte spüren, wann ich mich zu ihm umschaute, um mich von ihm zu verabschieden. Ich beobachtete, wie er um die Kurve verschwand.
Fast im gleichen Augenblick, als Harley das Motorrad von seinen Ersparnissen kaufte und mit nach Hause brachte, ließ Daddy mich in Mommys Gegenwart versprechen, dass ich niemals mit Harley auf dem Motorrad fahren würde. Vermutlich war es nicht schwer zu begreifen, warum sie solche Angst vor Unfällen hatten. Ich erinnere mich, wie sorgfältig Daddy mir beibrachte Fahrrad zu fahren und wie restriktiv er und Mommy
vorgingen, als es darum ging, wo ich fahren durfte. Obwohl die meisten meiner Freundinnen auch auf Landstraßen fahren durften (manche fuhren sogar mit dem Fahrrad nach Dogwood), musste ich mit dem Rad auf unserem Besitz bleiben oder mit Daddy im Park fahren.
Ebenso wie Mommy am Reitunterricht in Dogwood teilgenommen hatte, ritt auch ich dort. Man sagte mir, ich sei eine sehr gute Reiterin. Manche meiner Freundinnen hatten eigene Pferde und luden mich oft ein, mit ihnen auszureiten. Ich wusste, wie nervös das meine Eltern machte, wenn man bedachte, was Mommy passiert war. Irgendwie schluckte Mommy den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals vor Entsetzen bildete, schloss die Augen und sagte okay.Trotzdem wusste ich, dass sie wie auf glühenden Kohlen saß, bis ich heil und gesund wieder nach Hause kam.
Außer der Tatsache, dass sie sich bei einem Reitunfall so schrecklich verletzt hatte, belastete sie die ständige Furcht, dass immer noch Unglück das Schicksal ihrer Familie bedrohte und uns bei der nächstbesten Gelegenheit ereilen würde. Ich werde nie vergessen, wie ich mit fünf Jahren einmal stolperte, als ich die Treppe hinunterlief. Ich kugelte herunter und schlug mit dem Kopf gegen die Stufen. Mommy hatte einen Augenblick solche Angst, dass ihr die Stimme versagte. Benommen setzte ich mich auf, eher erschrocken als verletzt, aber sie ließ mich dennoch zum Arzt bringen. So war das immer gewesen: größere Panik als nötig, immer wenn ich mich schnitt oder stieß, eine Erkältung oder Grippe bekam.
Wenn man all das bedachte, kam es keineswegs unerwartet, dass meine Eltern Entsetzen ergriff, als Harley mit seinem todschicken neuen Motorrad aufkreuzte.
Harley war so stolz darauf. Er hatte den Großteil des Geldes, das er verdient hatte, als er mit Onkel Roy auf dem Bau gearbeitet oder für Daddy den Rasen gemäht oder irgendwelche Arbeiten auf dem Landbesitz durchgeführt hatte, genommen und war durch die Geschäfte gezogen, bis er das Motorrad gefunden hatte, dass er haben wollte und sich leisten konnte. Onkel Roy hatte ihm nicht erlaubt, es zu kaufen, aber Harley hatte Tante Glenda irgendwie dazu überredet, zuzustimmen und eine Versicherung abzuschließen. Onkel Roy schwor, dass er keinen Pfennig zum Unterhalt des
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