Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
vielleicht ein Jahr nicht mehr, aber der Traum kehrt immer wieder zurück.
Ich denke immer, wenn ich herausfände, wer er ist, würde er sich vielleicht für mich interessieren und mir helfen, und vielleicht wäre ich dann nicht so ein Verlierer, zumindest nicht für ihn. Ich weiß, für alle anderen bin ich das.«
»Für mich bist du kein Verlierer, Harley.«
»Das werde ich aber sein«, beharrte er.
»Nein, wirst du nicht. Du wirst alle Widerstände überwinden und für deine Abschlussprüfungen lernen und sie bestehen, damit du deinen Schulabschluss bekommst. Dann kannst du versuchen, Architekt zu werden, genau wie dein Kunstlehrer dir geraten hat.«
»Aber klar«, sagte er.
»Ich helfe dir zu lernen.«
»Ehrlich?«
»Wenn du mir versprichst, es wirklich zu versuchen. Wirst du das?«
»Ich könnte es«, sagte er. »Nur um Roy zu beweisen, dass er Unrecht hat«, fügte er lächelnd hinzu.
»Onkel Roy möchte nicht, dass du ein Versager bist, Harley. Er hat nur Angst.«
»Roy? Angst? Er ist der einzige Mensch unter der Sonne, dessen Schatten einen Meter zusätzlichen Sicherheitsabstand hält.«
Ich lachte.
»Ich mache ihm daraus keinen Vorwurf«, fuhr Harley fort. »Soll ich dir noch was sagen, was ich dir noch nie erzählt habe? Früher war Roy mein Idol. Ich habe richtig zu ihm aufgeschaut. Nichts wollte ich mehr als so
stark und gefürchtet sein wie er. Ich dachte immer, es sei besser, wenn die Leute Angst vor dir haben. Deshalb arbeitete ich mit ihm auf dem Bau. Ich dachte, ich müsste genauso hart und unerbittlich werden wie er und alles wäre in Ordnung.
Einmal sah ich, wie er einen erwachsenen Mann mit einem Arm hochhob und ihn fast erwürgte. Er schüttelte den Burschen hin und her wie eine Stoffpuppe, bevor er ihn wieder absetzte.«
»Warum hat er das getan?«
»Er hörte, wie der Mann ihn mit einem dreckigen Schimpfwort bezeichnete. Ich wette, jedes Mal, wenn dieser Typ wieder so ein Wort benutzt, erinnert er sich daran, wie er in Roys starken Händen hing und fast erstickte«, meinte Harley lächelnd. »Er hat eine Kraft in sich, die ihm überhaupt nicht bewusst ist.«
»Manchmal hörst du dich an, als wäre er immer noch dein Idol, Harley.«
»Ich will überhaupt keine Idole haben. Menschen lassen dich doch ständig im Stich. Mein Motto lautet: Vertraue keinem außer dir selbst«, verkündete er.
»Ich werde dich nicht im Stich lassen, Harley.«
»Das wirst du, aber du wirst nichts dafür können, Summer. Das ist der einzige Unterschied«, prophezeite er.
Eine ganze Weile sprach keiner von uns. Dann fiel mein Blick auf das Geschenk in meiner Hand.
»Ich wollte es erst öffnen, wenn ich mit dir zusammen bin«, sagte ich.
»Ach, das ist nichts im Vergleich zu all den anderen
Geschenken, die du bekommen hast«, warnte er mich. »Du solltest nicht so ein großes Theater darum machen.«
»Es ist mir egal, was es ist, Harley. Für mich ist das eine große Sache. Und sag mir nicht, was in meinem Leben wichtig ist und was nicht«, fauchte ich.
Er lachte.
»Okay. Tut mir Leid. Und da beschuldigen die Leute mich, ein hitziges Temperament zu haben.«
Behutsam entfernte ich das Geschenkpapier. Es war eine dünne flache Schachtel. Ich hob den Deckel hoch. Wir hatten nicht viel Licht, aber im Schein der Sterne sah ich, dass es eine Zeichnung war.
»Was ist das?«
Ich betrachtete es eingehend und hielt es schräg, damit ich jede Einzelheit erkennen konnte. Binnen weniger Augenblicke war mir klar, dass es ein Bild von mir und Mommy war, wie wir uns an den Händen hielten und über den See schauten. Eine Schwarzdrossel schwebte über der Mitte des Sees.Vor langer Zeit hatte ich Harley von unserer Zeremonie erzählt, aber ich hätte nie gedacht, dass er sich daran erinnern würde, wie wichtig sie mir war.
»Wer hat das gezeichnet?«
»Ich habe dich und Rain ein paarmal dabei beobachtet, nachdem du mir davon erzählt hattest. Es ist wohl nicht besonders toll, aber zumindest bekommt man mit, worum es geht.«
»Toll? Das ist mehr als toll, Harley, das ist wunderbar. Du hast so viel Talent.«
»Ein bisschen was kann ich vielleicht«, gab er zögernd zu.
»Hör auf, Harley Arnold. Hör auf, dich wie ein Niemand klingen zu lassen. Das ist das beste Bild …«
Mir schnürte sich der Hals zu, weil mir das Herz wehtat.
»Oh, Harley«, rief ich und Tränen strömten mir über die Wangen. »Das ist das beste Geschenk von allen!«
Ich warf die Arme um ihn, umarmte ihn und küsste ihn auf die
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