Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
Motorrads oder für Benzin beisteuern würde. Im Laufe des Jahres arbeitete Harley von Zeit zu Zeit in einer Gaststätte an der Straße, räumte Tische ab, nur um genug Geld zu verdienen, um sein Motorrad zu unterhalten und etwas Taschengeld zu haben.Vermutlich hatte er schon immer ein Unabhängigkeitsgefühl, aber als er etwa vierzehn war, nahm es wirklich Gestalt an. Er hatte diese Reife, dieses Selbstbewusstsein, das Jungen erst erreichen, wenn sie entweder das College beenden oder anfangen zu arbeiten.
Sein Unabhängigkeitsdrang machte mich nervös, weil ich Harleys wachsende Distanz von seiner Familie spürte. Zu oft benahm er sich wie ein Mieter im eigenen Haus, ein Mieter, der wusste, dass bald der Tag kommen würde, an dem er seine Sachen packen und gehen würde. Onkel Roy betrachtete ihn noch immer als Last, und
Tante Glenda interessierte sich nicht genug für ihn. Das einzige Mal, dass Tante Glenda einkaufen ging, um ihm Kleidungsstücke und sonstige Sachen, die er benötigte, zu besorgen, war, als Mommy sie praktisch dazu zwang, sie zu begleiten.
Tante Glenda hasste es seit Latishas Tod, in die Öffentlichkeit zu gehen. Sie hatte das Gefühl, jeder schaue sie an und gebe ihr die Schuld an der schrecklichen Krankheit ihrer Tochter. Mommy befürchtete, dass Tante Glenda sich tief im Innersten tatsächlich für Latishas Tod verantwortlich fühlte. Es gab genug bigotte, religiöse Fanatiker, die ihr womöglich erzählten, dass sie ein ungeschriebenes Gesetz verletzte, indem sie einen Afroamerikaner heiratete und ein Kind von ihm bekam. Ich glaubte nie, dass Gott über so etwas böse war, gewiss nicht wenn die beiden Menschen einander wirklich liebten und schätzten. Ich fand es einfach schrecklich, dass sie glaubten, Gott würde seinen Zorn an einem unschuldigen Kind auslassen.
»Sie sehen das nicht so, Schätzchen«, erzählte Mommy mir. »Das stärkt ihren Hass und ihr schmutziges Denken – und nur das ist ihnen wichtig. Ich mache mir nur Sorgen um Glenda«, sagte sie und versuchte auf jede mögliche Weise, sie wieder für das gesellschaftliche Leben zu interessieren.
Tante Glendas Zögern war jedoch zu stark. Bei ihr heilte die Zeit keine Wunden, sondern ließ sie breiter und tiefer klaffen. Immer weiter zog sie sich zurück, selbst von Besorgungen und Veranstaltungen, die ihren Sohn betrafen.
Schließlich lag es ganz bei Harley, sich um Sachen zu kümmern. Gelegentlich, meistens wenn ich oder Mommy und ich bereit waren mitzukommen, kaufte Onkel Roy Sachen mit Harley ein, aber das war so selten, dass ich es an meinen zehn Fingern abzählen konnte.
Und so wurde Harley immer härter und isolierter. Manchmal wenn ich aus dem Fenster meines Zimmer schaute und ihn über das Gelände laufen sah, wirkte er wie jemand, der das Grundstück unbefugt betreten hatte. Onkel Roy verbot ihm zu rauchen; deshalb tat er es heimlich, stand hinter der Garage oder weiter weg in einem Wäldchen – nur um ihm zu trotzen, glaubte ich.
Als Harley noch ein kleiner Junge war, ließ Onkel Roy ihn sein Zimmer und seine Sachen aufräumen, als schliefe er in einer Kaserne. Harley erzählte mir oft von Onkel Roys plötzlichen und unerwarteten Inspektionen. Bis zum heutigen Tag gestattete er Harley nicht, ein Schloss an seiner Tür zu haben. Bis zum vergangenen Jahr führte er immer noch gelegentlich seine Inspektionen durch.Wenn er eine Schachtel Zigaretten fand oder das Bett war schlampig gemacht oder Kleidungsstücke flogen umher – so wie am Morgen meines Geburtstags -, tobte und schimpfte er und verhängte eine Strafe. Jetzt war Harley meiner Meinung nach absichtlich unordentlich, um Onkel Roy zu beweisen, dass all seine Bemühungen, all sein Murren und seine Strafen vergeblich gewesen waren. Der Kauf des Motorrades war die Krönung des Ganzen.
Meine Eltern wussten nicht, dass Harley sich ein Motorrad
kaufen wollte. Nur Tante Glenda hatte offensichtlich eine Ahnung davon, und sie hatte niemandem etwas davon gesagt, nicht einmal Onkel Roy. Wir hörten, wie er damit die Auffahrt herauffuhr. Daddy war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Ich war der erste Mensch, dem Harley sein Motorrad zeigen wollte. Er kam direkt zur Tür und rief mich heraus. Natürlich wollte er mich sofort zu einer Fahrt mitnehmen, und ich stieg schon fast hinter ihm auf, als Mommy an der Haustür auftauchte und »Nein!« schrie.
Wir schauten uns beide zu ihr um und sahen ein so abgrundtiefes Entsetzen auf ihrem Gesicht, dass wir beide einen
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