Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
er und wendete den Blick ab, als er fortfuhr.
»Ich war fast acht Jahre alt, als sie starb, aber ich hatte immer noch Schwierigkeiten damit, zu verstehen, was der Tod war. Latisha war oft krank. Ich erinnere mich daran, dass sie oft im Krankenhaus war, aber der Tod war für mich trotzdem etwas, das nur alten Menschen widerfuhr. Ich glaube, tagelang hinterher erwartete ich immer noch, dass Roy und meine Mutter sie wieder mit nach Hause brachten.«
Er lachte.
»Ich dachte wohl, wenn junge Menschen sterben, tun sie es nur für eine kurze Weile. Für sie ist der Tod nur eine weitere Krankheit, die sie überwinden. Der Arzt macht sie dann wieder gesund.
Meine Mutter verbrachte einen großen Teil jeder Nacht draußen bei ihrem Grab. Ich erinnere mich daran, dass sie Roy erzählte, Latisha könnte Angst haben ganz alleine in der Dunkelheit.
Er hatte nicht viel Geduld mit ihr und schrie sie an, weil sie so einen Unsinn redete.
Dann wandte sie sich der Religion zu, weil sie sich dann besser fühlte wegen Latishas Tod. Sie war im Himmel bei Engeln, also war sie nicht allein und hatte keine Angst. Laut meiner Mutter taten wir Latisha Leid, weil wir hier unten auf der Erde ihren Tod betrauerten.
Meine Mutter saß neben mir am Esstisch und erzählte mir das alles fast, wie eine andere Mutter ihrem Kind ein Märchen vorlesen würde.
Sie schlug ihre Bibel auf und las mir daraus vor, und dann erzählte sie mir alles über den Himmel. Roy konnte
das nicht ausstehen. Er stand auf und ging hinaus, manchmal bevor er seine Mahlzeit beendet hatte. Meiner Mutter fiel das nicht auf, oder es war ihr egal. Sie driftete allmählich immer weiter weg von uns.
Du weißt doch, wie das ist, wenn du mitten in der Nacht von einem schrecklichen Gewitter geweckt wirst, wenn du noch klein bist, und du rufst dann deine Mutter, aber sie ist nicht da, weil es sie stärker interessiert, draußen am Grab ihrer toten Tochter zu sein? Von Roy erhielt ich auch nicht viel Trost. Das kannst du dir denken. Er steckte den Kopf in mein Zimmer und knurrte: ›Hör auf, dich wie ein Baby aufzuführen. Dir wird nichts passieren. Schlaf weiter.‹<
Ich fragte mich, ob ihn jemals etwas ängstigte. Manchmal wollte ich deswegen wie er sein, und manchmal hasste ich ihn deswegen.«
Er hörte auf zu reden und schaute mich an, als wäre ihm gerade erst klar geworden, dass ich dort stand und zuhörte.
»Tut mir Leid, dass ich dich so voll gelabert habe«, sagte er.
»Das ist doch in Ordnung, Harley. Ich wollte dir zuhören.«
»Hier jammere ich dir was über meine Probleme vor. Was für ein egoistischer Hurensohn ich doch bin.«
»Nein. Außerdem will ich nicht ständig auf meinen unglücklichen Erfahrungen herumreiten«, sagte ich.
»Unglücklich? Das war weit davon entfernt, etwas mit Zufall oder Glück zu tun zu haben. Dieses Schwein. Ich
wünschte, ich wüsste seinen Namen. Ich wünschte, ich wüsste, wo er steckt. Ich würde ihm sein selbstgefälliges Grinsen vom Gesicht wischen.«
Er stand steif da, die Arme hingen an den Seiten herunter, die Hände zu Fäusten geballt.
»Ich weiß«, sagte ich und berührte ihn an der Schulter. »Deshalb erzähle ich dir ja nichts. Du würdest nur in Schwierigkeiten geraten, und was meinst du, wie ich mich dann fühlen würde?«
Er schwieg.
»Ich würde mich absolut grauenhaft fühlen, Harley.«
Er nickte, sein Körper entspannte sich.
»Kann ich dir etwas ganz Privates anvertrauen?«, fragte er.
»Natürlich.Wir haben einander doch immer vertraut, oder?«
»Ja, ja«, sagte er unwillig, weil er es nicht ausstehen konnte, wenn ich darauf anspielte, dass wir wie Geschwister oder bestenfalls wie Cousine und Cousin gelebt hatten. »Ich meine aber nicht diesen Verrat-es-abernicht-Kinderkram.«
»Was meinst du denn, Harley?«
»Ich meine, was ich fühlte und dachte, als du mir erzähltest, was dir passiert ist. Ich hätte völlig außer mir sein müssen wegen dem, was er dir angetan hat, aber was mir am meisten zu schaffen machte ist, dass du mit einem anderen Jungen nachts spazieren gegangen bist. Du dachtest, das könnte eine schöne Sommerromanze werden, nicht wahr?«, fragte er in sehr vorwurfsvollem Ton.
»Harley Arnold«, antwortete ich mit wachsender Empörung, »ich weiß nicht, was dich das angeht.«
»Natürlich geht mich das etwas an«, sagte er. »Ich hatte gehofft, du und ich würden eine Sommerromanze erleben, eine Sommerromanze, die bis in den Herbst dauerte und darüber hinaus«, platzte er heraus.
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