Die Hüter der Nacht
ließ sich auf den weichen Bezug des antiken Stuhls sinken. Es fiel ihm schwer, zu Anna aufzublicken. Die dicke Make-up-Schicht verlieh dem Gesicht eine geisterhafte Blässe. Vorsky versuchte, nicht daran zu denken, was unter dieser Schicht lag. Stattdessen erinnerte er sich an diese große Frau als schönes junges Mädchen, das voller Fragen gewesen war. Er dachte an die Nachwirkungen der Explosion, bei der ihre Eltern ums Leben gekommen waren und Anna fast bei lebendigem Leib verbrannt wäre, und er fragte sich, was aus ihr werden würde.
»Sie sind zu jung, um ein Relikt wie ich zu werden, Anna«, sagte er schließlich und hoffte, überzeugend zu klingen.
»Sie haben mit meinem Vater zusammengearbeitet.«
»Und mit Ihrer Mutter«, erwiderte Vorsky. »Sie waren in jenen Tagen eine große Unterstützung für uns. Aber diese Zeiten sind vorbei.«
»Nicht, solange Männer wie Hessler noch dort draußen sind. Nicht, solange noch ein Einziger von ihnen am Leben ist und andere verlockt, ihrem Beispiel zu folgen.«
Vorsky fragte sich, was er tun konnte, um die große Frau zu beschwichtigen. Er dachte daran, ihre Hand zu ergreifen, doch sie stand zu weit weg von ihm. »Es ist an der Zeit, aufzuhören, Anna. Für uns beide.«
»So haben Sie nicht gedacht, als Mundt mit seiner Namensliste zu Ihnen kam. Sie haben binnen vierundzwanzig Stunden gehandelt.«
»Diese Namen brachten wieder alles zurück für mich, gaben mir das Gefühl, fünfzig Jahre jünger zu sein und immer noch die Killer meiner Eltern mit Ihrer Hilfe zu jagen.«
»Sie haben diese Männer niemals gefunden, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Vorsky bedauernd.
»Dennoch sagen Sie mir, dass es an der Zeit ist, aufzugeben.«
»Jedenfalls bei Paul Hessler. Ihre Eltern hätten das getan.«
Annas entstelltes Gesicht verzerrte sich. »Weil er seine Buße, seine Sühne, mit Milliarden Dollar Spenden und Stiftungsgeldern erkauft hat? Weil er so lange als Jude gelebt hat, dass Sie bereit sind, ihn als solchen zu akzeptieren?«
Vorsky zuckte die Achseln. »Er war nur einer der Wächter, keines der Ungeheuer.«
»Sie waren allesamt Ungeheuer.«
Vorsky stemmte sich auf die Lehnen des antiken Stuhls und erhob sich. »Die Entscheidung liegt nicht allein bei mir, Anna.«
»Aber Sie sind einverstanden, nicht wahr?«
»Unter den gegebenen Umständen habe ich keine Wahl.«
»Man hat Sie also hergeschickt, um mich zu stoppen.«
»Ich bin hergekommen, um Sie auf jede mir mögliche Weise zu stoppen.«
»Und was ist mit Mundt? Werden Sie ihn ebenfalls stoppen?«
»Wenn wir ihn finden, ja.«
»Und Barnea, die israelische Kriminalbeamtin, die er gerettet hat?«
Vorsky nickte. »Wenn sie sich ihm angeschlossen hat.«
»Sie würden mich und eine Landsmännin vernichten, um einen Mann wie Paul Hessler zu schützen – oder sollte ich sagen, Karl Mundt?«
»So ist es, befürchte ich. Es tut mir Leid, Anna.«
Sie ergriff nicht die Hand, die er ihr hinhielt. »Mir tut es ebenfalls Leid.«
Anna beobachtete durchs Fenster der Hotelhalle, wie Abraham Vorskys Leibwächter, von denen während des Treffens nichts zu sehen gewesen war, mit ihrem Boss in den Wagen stiegen. Das Auto fuhr davon, bog auf die Küstenstraße und bewegte sich in Richtung Brücke, wo es auf dem Weg zum Zentrum Istanbuls auf die europäische Seite des Bosporus fahren würde.
Anna blinzelte kaum, als Vorskys Wagen explodierte, Flammen emporschossen, Funken und zerfetzte Metallteile ins Wasser unterhalb der Straße prasselten. Eine zweite Detonation erschütterte den Wagen – vermutlich explodierte der Tank –, und die Karosserie wurde durch die Luft gewirbelt und stürzte über das Geländer, das die Straße vom Meer trennte.
Anna wandte sich um und sah, dass die Wächter des Tores, die sie mitgebracht hatte, hinter ihr standen. »Nehmt Kontakt mit den anderen auf«, befahl sie. »Wir werden sie in den Vereinigten Staaten treffen.«
Ihr Handy klingelte, und sie zog es hastig hervor. Die Nummer wurde fast täglich elektronisch geändert; die neueste Nummer hatte Anna nur einer einzigen anderen Person gegeben.
»Auftrag erledigt«, meldete der Leiter des Teams, das Anna nach Polen geschickt hatte.
SIEBTER TAG
75.
Ben Kamal betrat das Nationale Archäologische Museum in Athen gleich nach der palästinensischen Fußball-Nationalmannschaft. Er hielt sich nahe genug an der Gruppe, um für ein Mitglied gehalten werden zu können, jedoch weit genug entfernt, dass keiner der Spieler von ihm Notiz
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