Die Hüter der Nacht
des Landes und ermittelt bei Verbrechen, die in israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten begangen werden. Sie beschäftigt sich auch mit Fällen, die sich durch mehrere Bezirke ziehen oder größere Dimensionen haben. So wurden Danielle und ihre Kollegen für gewöhnlich gerufen, wenn eine Vorermittlung bereits im Gange war. Aber in diesem Fall hatte Paul Hesslers Einfluss dafür gesorgt, dass die Nationalpolizei von Anfang an die Ermittlung leitete.
Danielle blieb neben Ratovsky stehen und betrachtete die mit einem Laken bedeckte Gestalt auf dem Tisch. »Was können Sie mir über ihn sagen?«
Ratovsky nahm ein Klemmbrett von einem Haken am Tisch und überflog kurz die Seiten darauf, während Danielle weiterhin von dem chemischen Geruch im Raum malträtiert wurde: eine Mischung, die vom unverkennbaren Geruch von Formaldehyd beherrscht wurde. Es war stets kalt hier, und Danielle wünschte, sie hätte eine Jacke anzogen, bevor sie mit dem Lift nach unten gefahren war.
Ratovsky blickte schließlich von seinen Notizen auf. »Nicht sehr viel, befürchte ich. Zwischen siebzig und achtzig Jahre. Amerikaner, nach dem Zahnersatz und den chirurgischen Narben zu schließen, die auf drei gastroenterologische Operationen in den vergangenen zehn Jahren hinweisen.«
»Gastroenterologisch?«
»Dieser Mann hatte Magenkrebs, Pakad. Sein ursprünglicher Magen wurde entfernt und durch einen neuen ersetzt. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass der Krebs zurückgekehrt ist, was seine jüngste Operation offenbart haben muss.«
»Wann war die letzte Operation?«
Ratovsky zog seine Notizen auf dem Klemmbrett zurate. »Vor drei bis sechs Monaten.«
»Er war also dem Tod nahe«, mutmaßte Danielle.
»Das kommt darauf an, wie aggressiv die Behandlungsmethode seiner Ärzte war. Aber in seinem Alter, mit einem Rückfall …« Ratovsky schüttelte den Kopf. »Da konnten sie wenig tun.«
Danielle dachte an die erschreckende Aussicht, sämtliche Kliniken in den Vereinigten Staaten, die Magenkrebs behandelten, befragen zu müssen.
»Noch etwas, das helfen könnte, ihn zu identifizieren?«
»Nur dies«, sagte Ratovsky und griff unter das blaue Laken nach dem Arm des Toten.
Er zog das Laken zurück und enthüllte eine Tätowierung auf dem rechten Unterarm. Der Arm war inzwischen mehr Knochen als Muskeln, und die ausgetrocknete und welke Haut hatte die Form der Tätowierung verzerrt.
»Sie werden ein Vergleichsmuster haben wollen, deshalb habe ich einige digitale Aufnahmen aus einer Reihe von verschiedenen Winkeln gemacht«, fuhr Ratovsky fort und zog ein Kuvert von der Unterseite seines Klemmbretts hervor. »Gescannt und vergrößert bis zur größtmöglichen Schärfe.«
Danielle öffnete den Umschlag und nahm die oberste Aufnahme heraus. Die abgebildete Tätowierung war viel schärfer als die unter dem fluoreszierenden Licht, das auf den Tisch leuchtete. Es schien eine Art Wurm zu sein, der in einem der beiden dicken Greifer, die wie Arme wirkten, ein Messer hielt. Dünne Tropfen Blut fielen vom Messer und liefen wie Kleckse weiter hinab über den Unterarm des Toten.
»Sonst noch etwas?«, fragte Danielle, die plötzlich gar nicht schnell genug von hier wegkommen konnte.
»Die Narbe stammt von einer Kugelwunde, die er vor vierzig oder fünfzig Jahren erlitten hat.«
»Seinem Alter nach könnte er am Zweiten Weltkrieg oder am Koreakrieg teilgenommen haben«, überlegte Danielle. »Er könnte Veteran sein.«
»Leider sind seine Hautfalten zu sehr geschrumpft, um das exakte Kaliber der Kugel zu bestimmen, und es ist nur eine minimale Narbe geblieben. Deshalb kann ich nichts Genaueres sagen, was den Zeitpunkt der Verwundung angeht.«
»Danke, Doktor«, sagte Danielle und entfernte sich vom Tisch mit der Leiche. »Schicken Sie mir bitte Ihren Abschlussbericht, sobald er fertig ist.«
»Ich kann Ihnen noch eines sagen«, fügte Ratovsky hinzu, als Danielle auf halbem Weg zur Tür war.
Sie blieb stehen und wandte sich um. »Ja?«
Der Blick des Pathologen fiel auf den Umriss des Toten auf dem Tisch. »Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber der Mann hatte ein Glasauge. Sie könnten nach einem Amerikaner suchen, der im Zweiten Weltkrieg oder in Korea ein Auge verloren hat. Diese Akten existieren bestimmt noch irgendwo.«
Danielle nickte und ging im Geiste die Schritte durch, die unternommen werden mussten, um die Identität des Killers zu klären.
Abermals dachte sie an das Alter des Mannes: ungefähr 75 und kurz vor
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