Die Hüter der Nacht
Barnea?«
»Nicht mehr.«
»Ich weiß. Tut mir Leid.«
»Sie wissen es? Wer spricht denn da? Wie sind Sie an meine Telefonnummer gekommen? Ich kenne sie ja selbst nicht mal.«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Hat das etwas mit einem Verwaltungsproblem zu tun?«
»Sie ermitteln im Mordfall Ari Hessler, dem Sohn von Paul Hessler, ja?«
»Ich befürchte, ich kann nicht …«
»Bitte, das ist zu Ihrem eigenen Besten.«
»Also gut. Ich war dieser Ermittlung für sehr kurze Zeit zugeteilt, für einen einzigen Nachmittag, bis jemand anders den Fall übernahm.«
»Deshalb müssen wir miteinander reden.«
Danielle neigte sich unwillkürlich vor. »Was wissen Sie über diesen Mord?«
»Dass er mit anderen zusammenhängt.«
Danielle zügelte sich, denn sie stellte sich vor, dass Moshe Baruch am anderen Ende der Leitung lauschte und sich auf die wulstigen Lippen biss, um nicht in Gelächter auszubrechen. Danielle Barnea, das besessene Ermittler-Ross, das beim ersten Klang einer Glocke in ihrem Jagdfieber durchging.
»Wie hängt er mit den anderen zusammen?«, fragte sie.
»Ich sagte Ihnen, wir müssen uns treffen.«
»Nicht, bevor Sie mir sagen, wer Sie sind.«
»Mein Name ist Asher Bain. Bis gestern Nacht war ich Chef-Adjutant des stellvertretenden Stabschefs der Armee, General Efrain Janush.«
»Was ist geschehen?«
»Er wurde ermordet.«
Danielle hielt Ausschau nach dem Kaugummi kauenden Typ mit dem wilden Haar und entdeckte ihn bei der Kontrolle irgendwelcher Daten auf einem Klemmbrett. Offenbar hatte er sie vergessen.
»Wo möchten Sie sich mit mir treffen?«, fragte Danielle.
33.
Paul Hessler hatte die Beerdigung seines Sohnes wie durch einen Nebelschleier erlebt. Die vielen Anwesenden, von denen die Trauerhalle überfüllt war, bedeuteten keinen Trost für ihn. Viele hatten Ari nicht einmal gekannt oder waren nur flüchtige Geschäftsbekannte gewesen. Sie waren von weit her eingeflogen, nicht so sehr aus Trauer, sondern weil sie sich Paul Hessler gegenüber verpflichtet fühlten. Ihre Beileidsbekundungen waren ehrlich und mit herzlichem Händedruck erfolgt. Aber die meisten waren hier, weil sie befürchteten, es könnte einen negativen Eindruck machen, würden sie nicht erscheinen.
Paul aber wollte die wahren Trauernden um sich haben, Aris langjährige Freunde und Mitglieder der Studentenverbindung und die jungen Leute, mit denen er in der Firma gearbeitet hatte. Sie kannten seinen Sohn wirklich; der Verlust, den sie erlitten hatten, war so real wie sein eigener. Beinahe verabscheute Paul die dauernden Beileidsbeteuerungen; in den nächsten drei Tagen und Nächten der Shiva, der jüdischen Gedenktradition, würde es nichts anderes geben.
Aris Mutter Elaine, die Paul seit der Scheidung nicht mehr gesehen hatte, wirkte verändert. Paul fragte sich, ob sie das Trinken aufgegeben hatte. Doch beim Empfang nach der Beerdigung schüttete sie ein Glas Wein nach dem anderen in sich hinein, Rot- und Weißwein durcheinander, bis sie so benebelt war, wie er sie nur zu gut in Erinnerung hatte. Während der letzten Stunde des Empfangs lehnte sie sich Halt suchend an ihren neuen Mann, der ständig nervös auf seine Rolex blickte, die er sich mit Paul Hesslers Geld gekauft hatte.
Pauls andere Kinder zeigten unterdessen Sinn für Solidarität, und mit viel obligatorischem Lächeln und Umarmen roch er die jeweiligen Parfummarken seiner Töchter. Schließlich konzentrierte er sich auf seine Enkelkinder, die er selten sah, und fragte sich, ob ein neuer Ari unter ihnen sein mochte, ein Namensvetter, dem er eines Tages die Zukunft von Hessler Industries anvertrauen konnte.
Paul Hessler hatte sich nie einsamer gefühlt als unter all diesen wohlmeinenden Menschen. Nur der lange, gefährliche Weg durch Polen nach seinem Entkommen aus dem Arbeitslager bei Lodz Ende 1944 konnte mit den vergangenen Tagen voll verzweifelter Einsamkeit konkurrieren. Er erinnerte sich an jeden Moment, jedes Wegstück mit einer Deutlichkeit, die nie verblasst war. Stets hatte er sich weitergeschleppt, noch eine Stunde, noch einen Kilometer, bis er vor Erschöpfung rasten musste.
Dem Arbeitslager hatte Paul in den letzten Kriegstagen entkommen können, doch vor dem Tod seines Sohnes gab es kein Entrinnen. Nachts, wenn er nicht einschlafen konnte, versuchte er sich laut bei Ari zu entschuldigen, weil er verantwortlich für dessen Tod war. Es gibt Probleme, die ein Vater niemals mit jemandem teilt, nicht einmal mit seinem Sohn, und das größte
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