Die Hüter der Nacht
und zwei Portionen Suppe – kaum ein Liter – hatte seine gesamte tägliche Ration bestanden.
»Danke«, sagte Paul und nahm die Tasse von der Frau entgegen, wobei er das Zittern seiner Hand unterdrückte. Er war überzeugt, die Frau zu kennen, doch er wusste nicht genau, wo er sie unterbringen sollte. »Danke, äh …«
»Ich bin Tess Sanderson, Mr. Hessler. Ich arbeitete für Sie, oder genauer gesagt, ich habe für Ari gearbeitet.«
»Haben wir uns schon mal getroffen?«
»Nicht offiziell, nein. Ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen.«
Paul zuckte die Achseln und wartete darauf, dass sie davonging wie alle anderen, nachdem sie kondoliert hatten.
»Da ist noch etwas, über das ich mit Ihnen sprechen muss, Sir«, sagte sie stattdessen mit gesenkter Stimme. »Bezüglich Ari.«
»Selbstverständlich. Sobald ich wieder im Büro bin.«
»Mr. Hessler, ich glaube, Sie müssen es so schnell wie möglich hören. Ari hätte es so gewünscht. Ich weiß, dass er vorhatte, es Ihnen nach der Rückkehr in New York selbst zu sagen. Er wollte Sie überraschen.«
»Mich überraschen?« Eine Erinnerung stieg in Paul Hessler auf; Worte fielen ihm ein, die zu den letzten seines Sohnes gezählt hatten … Ari hatte tatsächlich versprochen, ihm nach der Rückkehr in die Vereinigten Staaten irgendetwas zu erzählen. Und da war der Anruf von einem Geschäftspartner gewesen, der etwas von einer Feier gesagt hatte, die von Ari geplant gewesen war.
»Hat es etwas mit einer Party zu tun, die er plante?«
Tess Sanderson räusperte sich. »Es hat mit Projekt vier-sechs-null-eins zu tun.«
»Mit dem Projekt, dessen Abbruch ich angeordnet habe?«
»Ari ordnete einen neuen Test an.«
»Ohne meine Genehmigung?«, fragte Paul, verwirrt und beinahe ärgerlich über das eigenmächtige Handeln seines Sohnes.
»Er glaubte an das Projekt, Sir. Er glaubte wie ich, dass wir nahe daran sind. Er erlaubte uns vorbereitende Versuche.«
Paul Hessler lächelte, als er sich vorstellte, wie er Ari die Meinung gesagt hätte. »Fahren Sie fort.«
»Es funktioniert, Sir.«
Paul blinzelte. »Haben Sie gesagt …?«
»Ja, Sir«, bestätigte Tess Sanderson. »Projekt vier-sechs-null-eins funktioniert.«
34.
»Ashawi«, wiederholte der Verwalter des Flüchtlingslagers Aida und blätterte in seinem Kasten mit Karteikarten. »Ashawi …« Ben bemerkte auf seinem Schreibtisch einen alten IBM-Computer, der nicht einmal angeschlossen war. »Lassen Sie mir bitte einen Moment Zeit.«
In der komplizierten Aufspaltung, die Palästina erlebt hatte, war Bethlehems Teilung die vielleicht komplizierteste. Wo christliche Pilger sich in Sichtweite des Manger Square versammelten, wurde letzte Hand an ein umstrittenes Siedlungsprojekt gelegt. Nicht weit entfernt befand sich eine ehemalige palästinensische Mädchenschule – im ersten nachchristlichen Jahrtausend der Palast eines Sultans –, die nun zum Inter-Continental Bethlehem geworden war, ein Luxushotel mit Suiten, Gourmet-Restaurants, Bars und Fitnessklub. Das Hotel befand sich fast direkt gegenüber der Straße vom Flüchtlingslager, in das heute Bens Ermittlungen geführt hatten. Der Bau des Hotels hatte sich wegen häufiger Zusammenstöße zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Jugendlichen mehrmals verzögert, und oft war Tränengas über das Grundstück geweht. Es war das einzige bedeutende Bauprojekt, bei dem die Arbeiter Gasmasken an ihren Gürteln trugen.
Am luxuriösen Swimmingpool des Hotels befand sich eine hohe Betonwand, die das Grundstück des Inter-Continental vom Aida-Flüchtlingslager trennte, in dem die Verwandten der verschwundenen Familie Ashawi lebten. Ben fragte sich, ob je nach Windrichtung die Düfte der reichlich vorhandenen Blumen des Hotels oder die Gerüche von Feinschmeckeressen der Hotelküche ins Lager trieben – und ob anders herum der Gestank von Dreck und Schlamm und der Kanalisation die wohlhabenden Hotelgäste behelligte.
Ben hatte seinen Wagen vor dem schäbigen Bau geparkt, in dem die Verwaltung des Flüchtlingslagers untergebracht war. Das Symbol der Palästinensischen Autonomiebehörde war neben die Tür gemalt worden und konkurrierte mit dem der Vereinten Nationen und des Internationalen Roten Kreuzes. Es gab auch noch andere, kleinere Symbole, die Ben nicht einmal kannte, als wären die Signets internationaler Hilfsorganisationen zu Firmenzeichen und Produktreklamen in amerikanischen Sportstadien geworden.
»Ja, natürlich«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher