Die Hüter der Schatten
niemals mit einer Schwindlerin zusammengetan, ganz gleich, ob sie einer Selbsttäuschung unterlag oder den Aberglauben anderer ausnützte. Die nächsten Bemerkungen der Frau hörte Leslie kaum; sie versuchte, sich mit dieser neuen Vorstellung anzufreunden.
»Vielleicht sollten Sie mal in meine Praxis kommen«, sagte sie, als wieder eine Pause eintrat. Zumindest konnte sie den Geisteszustand der Frau einzuschätzen versuchen und einige der üblichen Wahrnehmungstests durchführen. Je nach Ergebnis würde sie der Frau einen Arzt, ein Krankenhaus oder einen Neurologen empfehlen. Und wenn die Klagen der Frau berechtigt waren, konnte sie es vielleicht mit Kontrasuggestion probieren. Sie erinnerte sich, im Buchladen einen Band mit dem Titel Mentale Selbstverteidigung gesehen zu haben.
Sie notierte sich den Namen der Anruferin – Evelyn Sadler – und gab ihr noch für denselben Nachmittag einen Termin. Viel Zeit blieb ihr also nicht, um an Informationen über Verfolgung durch Geister zu gelangen, aber Mrs. Sadler war verzweifelt und brauchte zumindest ein Gespräch mit jemandem, der sie nicht auslachte oder verspottete.
Heute vormittag hatte sie eine Sitzung mit Eileen Grantson und ihrem Vater, in der es wahrscheinlich darum gehen würde, wieviel Mithilfe im Haushalt man von einer Vierzehnjährigen verlangen konnte – schließlich war Donald Grantson nicht krank oder lebte von der Fürsorge.
Schon zwei oder drei Sitzungen hatten Leslie und Eileen mit dieser Frage verbracht. Aber Leslie hatte das Gefühl, daß sogar der schlimmste finanzielle Druck nicht rechtfertigte, einem vierzehnjährigen Mädchen die Verantwortung für den ganzen Haushalt zu übertragen, so daß sie für ihren Vater praktisch die Frau im Hause spielte. Das war unrecht. Wenigstens hatte der Poltergeist sich zurückgehalten und die Beilegung des Streits zwischen Vater und Tochter nicht gestört. Sobald die Grantsons fort waren, wollte Leslie versuchen, etwas über den Geist des Ehemannes herauszufinden, der seine Frau noch aus dem Jenseits daran hinderte, ihr eigenes Leben zu führen.
Nachdem Eileen und ihr Vater gegangen waren, blieb Leslie noch eine knappe Dreiviertelstunde, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Eigentlich hatte sie diese Zeit für Gartenarbeit eingeplant, doch die Bedürfnisse ihrer Patienten gingen vor. Sie machte sich auf den Weg zum Buchladen.
Im stillen hoffte Leslie, nicht Claire im Laden anzutreffen. Sie hatte der älteren Frau deutlich zu verstehen gegeben, daß ihre Loyalität Simon galt, worin auch immer seine Differenzen mit den Freunden bestanden (Claire hatte von Schwarzer Magie gesprochen – absurd). Beim bloßen Gedanken an Simon stieg ein Gefühl der Erregung in Leslie auf. Nicht zu fassen, daß sie sich verliebt hatte! Ich hätte nie daran geglaubt, und jetzt ist es passiert.
So wie mit dem Hellsehen?
Zu dieser Tageszeit suchten nur wenige Kunden den Buchladen auf. Frodo dekorierte eine Ausstellungsfläche, und Colin saß hinter dem langen Ladentisch und las. Auf dem Weg nach drinnen blieb Leslie stehen. Über einen Tisch, auf dem sich »SUPER-ANGEBOTE!!!« befanden, wie ein Schild verkündete, spazierten zwei Katzen; die eine schwarz – bis auf einen kleinen weißen Fleck auf der Brust –, die andere nebelweiß. Leslie streckte die Hand aus, und eines der Tiere kam und schnüffelte an ihren Fingern, bis auch die andere Katze heranschlich und ihre Gefährtin mit der Nase wegstupste.
»Die sind ja wunderschön!« rief Leslie aus, als die schwarze Katze sich genüßlich unter ihrer streichelnden Hand wand. Colin blickte auf und lächelte ihr zu.
»Dr. Barnes! Was kann ich für Sie tun?«
Mit einem Mal kam Leslie ihr Anliegen töricht vor, und sie begann statt dessen, über die Katzen zu plaudern.
»Wie heißen die zwei?«
»Die Katzen sind die Hausgeister des Buchladens«, erklärte Colin gutmütig. »Der schwarze Kater heißt Monsignore. Sehen Sie sein weißes Beffchen? Schon als Jungtier ist er so würdevoll aufgetreten, daß er kein einfacher Priester sein konnte. Außerdem ist er keusch wie ein richtiger Geistlicher, weil er bereits im zarten Alter kastriert wurde.«
Leslie schmunzelte. »Und die weiße Katze?«
»Ist ein Weibchen. Sie heißt Poltergeist.«
»Poltergeist?« Leslie war sicher, daß der ältere Mann sie auf den Arm nahm.
»Ja, weil in ihrer Gegenwart Bücher von Tischen fallen und Gegenstände aus den Regalen stürzen, ohne daß eine menschliche Hand sie angerührt
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