Die Hüter der Schatten
halten. Jede Frau, die zwanzig Jahre lang einen Haushalt geführt und Kinder großgezogen hat, besitzt eine Menge Fähigkeiten, auch wenn sie es selbst nicht weiß.«
»Die Kinder möchten nicht, daß ich arbeiten gehe. Sie meinen, ihr Dad hätte mich gut versorgt, und ich hätte es nicht nötig …«
»Es ist Ihr Leben, Mrs. Sadler«, sagte Leslie. »Sie können mit einem Gespenst zu Hause sitzen, oder Sie können losgehen und sich in der Welt ein so erfülltes Leben schaffen, daß es Pete entmutigt. Wenn Sie das Geld nicht brauchen, arbeiten Sie ehrenamtlich. Unterdessen errichten Sie durch die geistigen Techniken, die ich Ihnen gezeigt habe, eine Barriere und machen Ihrem Mann klar, daß er sich nicht mehr auf derselben Existenzebene befindet wie Sie.« Und wenn die Frau sich alles nur einbildet, wirken die Schutzrituale eben als Gegensuggestion.
Die Uhr schlug zwei, und Leslie führte ihre Patientin zur Tür, wobei sie kurz ihre Honorarsätze ansprach. In der nächsten Woche würde sie ein paar Eignungstests durchführen. Vielleicht hatte Mrs. Sadler ja die Möglichkeit, nicht nur den Geist loszuwerden, sondern auch ein neues Leben zu beginnen.
Leslie kehrte in ihr Arbeitszimmer zurück und blätterte das Buch über geistige Selbstverteidigungstechniken durch. Die Uhr schlug zwei.
Moment mal. Sie hat schon zweimal geschlagen, bevor ich Mrs. Sadler hinausbegleitet habe … Einbildung? Sie blickte auf und sah, daß die Uhrzeiger auf zehn Minuten nach zwei standen.
Ach, zum Teufel, das habe ich mir eingebildet. Sie beschäftigte sich wieder mit dem Buch.
Die Uhr schlug zwei. Und dieses Mal war es keine Einbildung.
Ich dachte, Simon hätte alle Geister ausgetrieben.
Wieder schlug die Uhr. Diesmal standen die Zeiger auf vierzehn Minuten nach zwei – vollkommen bewegungslos, obwohl das Pendel schwang und die Uhr laut tickte. Das Türchen öffnete sich, und der Kuckuck sprang heraus und rief zweimal.
Versuchst du mir etwas mitzuteilen, Alison?
Leslie wartete zwanzig Minuten, wandte den Blick nicht von der Uhr, doch sie rührte sich nicht mehr, sondern schlug einmal leise halb drei.
Und ich hatte geglaubt, das wäre alles vorüber.
Den ganzen Nachmittag war Leslie nervös und konnte nur mit Mühe die Konzentration für ihre zwei anderen Patienten aufbringen. Sie war wütend über diese Störung in ihrem Büro, das bis jetzt ihr Hort des Friedens gewesen war. Was wollte Alison von ihr? Leslie würde sich nicht aus ihrem geliebten Arbeitszimmer vertreiben lassen. Was hatte sie Evelyn Sadler geraten? Sie können allein mit einem Geist zu Hause sitzen oder …
Leslie stieg in den Wagen, fuhr zu einem Einkaufszentrum in der Nähe und suchte ein Geschenk für Nick Beckenham und Margot aus. Sie würde es mit der Post schicken, da sie nun nicht mehr die Absicht hatte, mit Joel zur Hochzeit nach Sacramento zu fahren. Als sie wieder nach Hause kam, machte sie sich daran, einen Brief zu schreiben, in dem sie Nick und Margot beglückwünschte und sich entschuldigte, daß sie nicht kommen könne.
Um achtzehn Uhr zwanzig schlug die Kuckucksuhr in Leslies Büro zwölfmal. Sie beschloß, die Uhr am nächsten Tag in die Werkstatt zu bringen. Aber warum hatte die Uhr am Nachmittag, als die Patienten bei ihr gewesen waren, ganz normal funktioniert?
Um neunzehn Uhr achtundzwanzig schlug es noch einmal zwölf. Wütend hob Leslie den Kopf und rief: »Verschwinde, Alison, das ist jetzt mein Arbeitszimmer! « Sie war froh, daß der Raum schallisoliert war, so daß Emily sie nicht hören konnte.
16
Die Nebelbank war aufs Meer hinausgetrieben, und eine für die Jahreszeit ungewöhnliche Hitzewelle hatte San Francisco rekordverdächtige Temperaturen von weit über dreißig Grad beschert. Emily kam unausgeschlafen und müde zum Frühstück hinunter und nippte lustlos an ihrem nach Zitrone duftenden Tee.
»Ich werde Rainbow überreden, heute schwimmen zu gehen. Wir könnten mit Timmie an den Strand fahren«, meinte sie. »Diesen Sommer habe ich fast nichts unternommen. Simon wird zwar toben, wenn ich einen ganzen Tag lang nicht übe …«
»Dann spiele heute vormittag ein paar Stunden und fahre anschließend zum Strand«, schlug Leslie vor. »Simon hätte bestimmt Verständnis dafür. Blinder Eifer schadet nur.«
»Okay.« Das Telefon klingelte. Emily stürzte hin, lauschte einen Moment in den Hörer und reichte ihn dann seufzend an ihre Schwester weiter.
»Für dich, Les.«
»Dr. Barnes? Sie kennen mich nicht«,
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