Die Hüter der Schatten
Verrückten.«
»Ich dachte, Sie wollten mir begreiflich machen, daß all diese Dinge wirklich sind …«
»Oh, das sind sie, meine Liebe. Aber … wie soll ich es ausdrücken? Spinner führen manchmal an: ›Die Leute haben Galileo ausgelacht. Niemand hat Thomas Edison geglaubt. Aber die Tatsache, daß man diese beiden großen Forscher verspottet hat, bedeutet noch lange nicht, daß jeder, der abstruse Ideen hegt, ein verkanntes Genie ist. Fast jeder Mensch, der Erfahrungen mit dem Übersinnlichen macht, durchlebt eine Phase, in der er sich selbst für verrückt hält – oder andere behaupten, er sei wahnsinnig. Aber das heißt noch lange nicht, daß jeder, der sich für das Opfer eines Angriffs aus dem Jenseits hält, unbedingt geistig gesund ist. Gerade der Umstand, daß wir ungewöhnliche Meinungen tolerieren, führt dazu, daß wir Exzentriker anziehen – und manche sind ernsthaft gestörte Persönlichkeiten. Einige sind so gefährlich wie der Rattenschwanz-Mörder. Wenn Menschen Stimmen hören – ob auf Grund eines Kontakts mit den inneren Ebenen ihres Selbst oder als Ergebnis ihrer Phantasie –, erzählen die Stimmen ihnen meist, alle Menschen seien Brüder, und sie sollten ihren Nächsten lieben und so weiter. Aber auf hundert solcher Stimmen kommen zwei, die dämonischen Ursprungs oder eine Ausgeburt des Wahnsinns sind und ihren Opfern befehlen, Unschuldige abzuschlachten oder die Hilflosen zu verfolgen. Der ›Sohn des Sam‹ war ein solcher Fall. Ich habe keine Ahnung, ob seine Stimmen real waren oder aus einem Winkel seines von Drogen überschwemmten Gehirns stammten, aber das Ergebnis war abscheulich. Deshalb ist es sehr von Nutzen, wenn ein ausgebildeter Psychologe diese Arbeit tut; er kann eine differenzierte Diagnose erstellen und weiß, ob der Mensch, den er vor sich hat, ein Fall für den Arzt, den Psychiater, den Neurologen, die Polizei oder den parapsychologischen Heiler ist.«
Wir halten einen Ratgeber immer für brillant, wenn er uns das erzählt, was wir selbst denken, bemerkte eine leise Stimme in Leslies Innerem. Sie hatte selbst Überlegungen in diese Richtung angestellt. »Aber was sage ich dieser Frau? Ich muß in meine Praxis und mit ihr reden …«
»Wie lange geht das bei ihr schon so?«
»Fünf Jahre, sagt sie. Und sie ist am Ende ihrer Kraft …«
»Nun, die meisten Menschen können mehr ertragen, als sie glauben, sofern sie eine Hoffnung auf Erlösung sehen«, erklärte Colin MacLaren. »In der ersten Sitzung können Sie ohnehin nur eine Art mentaler Erster Hilfe leisten. Lehren Sie Ihre Patientin, ihre Aura zu versiegeln und ihre Privatsphäre abzuschirmen … Ich nehme an, Sie wissen, wie das geht?«
Leslie erinnerte sich an das Bannritual, das Simon sie am Tag der Sonnenwende gelehrt hatte, und nickte. Colin reichte ihr ein paar Bücher.
»Nehmen Sie die mit, und lesen Sie sie. Nein, bezahlen Sie erst, wenn Sie sicher sind, daß es das Richtige ist. Zahlen können Sie, wenn Sie die Bücher behalten wollen«, sagte Colin. »Wir richten ein Kundenkonto für Sie ein. Jeder, der sich auf dem Pfad befindet, bekommt bei uns diesen Service. Frodo …« Colin hob leicht die Stimme. »Komm einmal her und richte ein Konto für Dr. Barnes ein.«
Leslie überlegte, daß sie sich damit zum Wiederkommen verpflichtete, entweder um die Bücher zu bezahlen oder um sie zurückzugeben. Aber noch immer wirkte der Augenblick nach, als sie unendliches Vertrauen zu Colin empfunden hatte. Man sollte meinen, ich hätte ihn in einem früheren Leben gekannt, spottete sie bei sich, ließ aber widerspruchslos zu, daß der ältere Mann die Bücher einwickelte.
»Hi, Dr. Barnes«, rief Frodo und blickte auf. »Wie geht’s Emily? Alles klar?«
»Emily geht’s gut, aber sie ist sehr beschäftigt.« Leslie hatte genug Probleme mit sich selbst, ohne sich auch noch in Emilys Leben einzumischen. Aber sie wußte, daß ihre Schwester den jungen Mann vermißte. Wäre Simon nicht gewesen, hätten die beiden sich längst versöhnt. Aber das war Emilys Sache.
Als Leslie nach Hause kam, spielte Emily im Musikzimmer Bach. Die Tür stand offen. Emily hörte ihre Schwester und kam heraus.
»In deinem Büro sitzt eine Patientin. Ich habe sie hereingelassen. Wir sollten wirklich ein Wartezimmer einrichten, Les.«
»Ich weiß«, sagte Leslie knapp. »Wir reden bald mal darüber, in Ordnung?«
Evelyn Sadler war klein und zerbrechlich. Ihre Kleidung sah teuer aus, schien aber zehn Jahre alt zu sein. Das Haar
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