Die Hüter der Schatten
in die Hände. »Jetzt bin ich enttäuscht«, meinte er. »Ich hätte geglaubt, jemand, der durch Alison zu uns geführt wurde, wüßte die Antwort auf diese Frage bereits. Es gibt nur ein einziges akzeptables Motiv für jede Forschung, ob wissenschaftlich oder nicht, und das ist zugleich der einzige Beweggrund, der auf unserem Pfad legitim ist: Ich möchte wissen, um zu dienen.«
Irgend etwas in Leslies Innerem reagierte auf diese Worte, als hätte Colin sie in einer Sprache gesprochen, die sie einst beherrscht hatte und nun mühsam wiederentdeckte. Zugleich verärgerte sie die unausgesprochene Kritik an Simon, die in diesen Worten lag, und sie wechselte das Thema.
»Irgendwie hat sich herumgesprochen, ich hätte Dr. Margraves Praxis übernommen«, sagte sie. »Sind Sie der Grund dafür, Colin?«
Colin MacLaren blickte zu ihr auf. Seine Augen unter den hochgezogenen Brauen wirkten unnatürlich blau. Er sagte kein Wort, doch als ihre Blick sich begegneten, erkannte Leslie, daß ihr Gedanke absurd war. Dafür kenne ich ihn zu gut, dachte sie, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt. Es kam ihr so vor, als würde sie Colin schon ihr Leben lang kennen und ihm vertrauen. Sie empfand für ihn, wie man für einen Vater empfindet, oder einen Priester – was sie von neuem verwirrte: Leslie war keine Katholikin und sah keinen Grund, einem Priester zu vertrauen, und als Psychologin wußte sie, daß ein Vater häufig der letzte war, dem eine Frau Vertrauen schenken konnte … und damit meinte sie keineswegs irgendwelche verstaubten Ödipus-Theorien, sondern die ganz normale Familiendynamik.
Sie kannte Colin nicht einmal sechs Wochen.
»Bei meiner Ehre, Leslie, das stimmt nicht«, erklärte Colin. Leslie hatte in diesen paar Sekunden fast vergessen, wonach sie ihn gefragt hatte. »Ich nehme allerdings an, daß jedermann, der Alison kannte, selbstverständlich davon ausgeht, daß sie niemand anderem als ihrer Nachfolgerin erlauben würde, in ihrem Haus zu wohnen. Alison hat ihre Arbeit sehr ernst genommen. Es war eine Arbeit von großer Bedeutung.«
»Jede Tätigkeit im therapeutischen Bereich ist von Bedeutung«, konterte Leslie. »Aber wollen Sie mir damit sagen, daß ich irgendwie zu einer Parapsychologin, einer Geisterjägerin geworden bin?«
»Leslie, ich wäre niemals in der Lage, auf diese Weise Ihr Leben zu bestimmen. Niemand hat dieses Recht, weder Alison noch Simon. Diese Entscheidung können nur Sie selbst treffen. Aber sind Sie nicht bereits durch die Umstände in diese Rolle gedrängt worden?«
»Na, wunderbar«, versetzte Leslie trocken. »Ich muß also Hellseherin sein, bloß weil der Enquirer mich so nennt?«
»Die Frage lautet nicht, wie der Enquirer oder sonst jemand Sie bezeichnet, sondern was Sie wirklich sind«, entgegnete Colin.
»Das Problem ist, daß ich anscheinend nicht damit zurechtkomme und keine Ahnung habe, wo ich anfangen soll«, gestand sie freimütig.
»Dies kommt bei Personen, die über eine außersinnliche Begabung verfügen, häufig vor. Es fällt ihnen schwer, die Gabe einzusetzen, wenn sie es wollen. Statt dessen neigen die Kräfte oft dazu, sich der Menschen zu bedienen«, setzte Colin ihr auseinander. »Und dann lassen diese Menschen sich entweder von den Kräften beherrschen und enden als Trance-Medium, oder sie versuchen, alles zu ignorieren und hoffen, daß es verschwindet. Das ist gefährlich und kann bis zur Besessenheit gehen – ich will Ihnen keine Angst einjagen, Leslie, aber so etwas kann passieren.«
»Aber wie soll ich denn lernen?« verlangte Leslie fast verzweifelt zu wissen. »In meiner Praxis wartet eine Frau, die überzeugt ist, daß der Geist ihres toten Ehemannes sie verfolgt und ihr das Leben zur Hölle macht. Wie kann ich die Spinner, die Verrückten, von den Leuten unterscheiden, die tatsächlich von dem verfolgt werden, was Sie das … Unsichtbare genannt haben?«
Colin seufzte. »Menschen wie Sie, Leslie, sind häufig die besten parapsychologischen Forscher und Therapeuten. Denn wie Alison sind Sie von Natur aus skeptisch, mußten sich wider Willen von der Existenz dieser Kräfte überzeugen und sind intellektuell zu ehrlich, um die Beweise zu ignorieren. Aber jede Tugend birgt auch ihre Schwächen. Ich könnte Ihnen alle möglichen Ratschläge erteilen, aber sie gelten nur für mich selbst, haben nur mir selbst geholfen, verstehen Sie? Und was Sie da angesprochen haben, ist leider eine der größten Fallgruben bei unserer Arbeit. Die
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