Die Hüter der Schatten
hatte sie achtlos zu einem zotteligen Knoten zusammengebunden. Sie war siebenundvierzig, wirkte aber zehn Jahre älter. Colins Wort von der »Ersten Hilfe« im Ohr, ermunterte Leslie die Frau, ihr alles über ihren Ehemann zu erzählen. Die Erscheinungen reichten von Geräuschen und Lichtphänomenen bis hin zu unheimlichem Flüstern. Manchmal tauchte aus dem Nichts das Gesicht ihres Mannes auf. Ihr Hund war davongelaufen und ihre Kinder von zu Hause ausgezogen, obwohl Leslie der Grund nicht ganz klar war. Waren die Kinder vor dem Geist ihres Vaters geflohen oder weil sie nicht tolerierten, daß ihre Mutter daran glaubte?
Ich muß ohne Vorbehalte an den Fall herangehen. Zuerst einmal werde ich mich so verhalten, als wäre das wirklich geschehen, ob es nun wahr ist oder nicht. Jedenfalls leidet diese Frau.
»Sie sagten, in letzter Zeit sei es schlimmer geworden. Was könnte dazu geführt haben?«
»Es wurde so unerträglich, daß ich zu einem Medium gegangen bin«, flüsterte Mrs. Sadler eingeschüchtert. »Die Frau sagte, ich solle mich dem Geist öffnen und herausfinden, was er von mir will. Ich habe den Rat befolgt und weiß nun, was sein Ziel ist – mich umbringen!«
Wahrheit oder eine gefährliche Illusion, die auf Selbstmordpläne hindeutete? Leslie konnte es noch nicht einschätzen.
»Er kann Ihnen nichts tun, nur Angst einjagen«, beruhigte sie ihre Patientin. Ganz sicher war Leslie zwar nicht, aber es war besser, wenn Mrs. Sadler das glaubte. »Das Wichtigste wäre, Ihr Leben mit so vielen Aktivitäten auszufüllen, daß es ihm schwerfällt, an Sie heranzukommen.«
»Nun ja, ich möchte schon gern ausgehen, aber ich wüßte nicht wohin«, entgegnete Evelyn Sadler wehleidig. »Die Mädchen sind verheiratet oder gehen aufs College. Früher kannte ich viele Leute … aber es sind alles Ehepaare, die an einer alleinstehenden Frau nicht interessiert sind. Das habe ich in dem Jahr gemerkt, als Pete starb. Deshalb sitze ich meist mit meinen Erinnerungen allein zu Hause.«
»Das ist das Verkehrteste, was Sie tun können«, erklärte Leslie unumwunden. Wenn der Geist tatsächlich existierte, wurde ihm auf diese Weise Tür und Tor geöffnet, und er konnte sich im Bewußtsein der Patientin festsetzen – genau dasselbe, was auch die Instruktionen des Mediums bewirkt hatten. Und wenn Mrs. Sadler sich das Ganze einbildete, hatte sie viel zuviel Zeit, darüber nachzugrübeln.
»Aber was kann eine Frau in meinem Alter schon unternehmen?«
»Oh, sehr viel, Mrs. Sadler«, erwiderte Leslie. »Schließen Sie sich einem Sportverein an, einem Bridgeklub oder einem christlichen Frauenverein. Besuchen Sie Kurse – Tennis, Makramee, Kurzgeschichtenschreiben –, alles, wodurch sie aus dem Haus und unter Menschen kommen. Dann haben Sie keine Zeit mehr für Geister.«
»Aber ich spiele nicht gern Karten, und für Gemeindearbeit interessiere ich mich auch nicht«, wandte Mrs. Sadler ein, und Leslie erkannte, daß der Schwerpunkt der Sitzung sich verschoben hatte. Ob Geist oder Einbildung, hier saß eine Frau, die verletzlich war, weil sie sich zu sehr mit sich selbst beschäftigte. Leslie erlaubte, daß die Frau die »Ja-aber-Sequenz« hinunterspulte, wie Leslie es nannte, indem Mrs. Sadler jeden Vorschlag abwies, der zur Lösung ihres Problems beigetragen hätte, und den Grund für die Abweisung nannte. Leslie klärte die Frau darüber auf und riet ihr eindringlich, sich aus ihrem eigenen Gefängnis zu befreien; dann brachte sie ihr einige der geistigen Blockade- und Schutztechniken bei, die Simon sie gelehrt hatte.
»Und das wird Pete von mir fernhalten?«
»Kommt darauf an, wie sehr Sie es wünschen«, meinte Leslie. »Wenn Sie zu Hause sitzen und nur darauf warten, seine Stimme zu hören, winken Sie ihn mit einer Hand herbei und weisen ihn mit der anderen ab.«
»Aber vielleicht ist er einsam …«
»Fühlen Sie sich denn verpflichtet, ihm Gesellschaft zu leisten?«
»Bei Gott, nein!« rief Mrs. Sadler. »Ich habe den Mann zweiundzwanzig Jahre ertragen. Er ist tot! Warum läßt er mich nicht in Frieden?«
»Das weiß ich nicht«, erklärte Leslie. »Aber Sie müssen ihm klarmachen, daß Sie Ihre Ruhe wollen. Haben Sie schon mal daran gedacht, in Ihren Beruf zurückzukehren?«
»Ja, schon, aber ich habe nicht mehr gearbeitet, seit die Kinder zur Welt gekommen sind …«
»Nächstes Mal führen wir ein paar Eignungstests durch«, versprach Leslie. »Wahrscheinlich besitzen Sie mehr Talente, als Sie für möglich
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