Die Hüter der Schatten
in ihr hochkroch. Was konnte das bedeuten? Emily schluchzte noch immer.
»Glaubst du, er ist verletzt? Oder tot? Ob sein Flugzeug abgestürzt ist? Oh, Les, warum sollte er mir sonst so erscheinen?«
Leslie setzte sich neben ihre Schwester und nahm sie in die Arme. Sie fühlte sich selbst wie betäubt und fürchtete sich, versuchte aber, Zuversicht in ihre Stimme zu legen. »Du hast bloß schlecht geträumt, Liebes.«
Simon und ich haben ein so festes Band geschmiedet – wenn er verletzt oder tot wäre, hätte ich es mit Sicherheit gespürt …
»Hör mir zu, Emmie«, sagte sie begütigend. »Simon hat mir mal erzählt, er erinnere sich, wie er einmal … hierhergekommen ist, als er betäubt und voller Schmerzen im Krankenhaus lag. Im Geiste. Und genau das muß eben geschehen sein.«
»Aber … seine Hände, sein Gesicht, das Blut …«
Leslie fiel ein, daß Claire ihr erklärt hatte, die Zeit existiere möglicherweise nur in der materiellen Welt. »Wahrscheinlich hatte er einen Alptraum – von seinem Unfall«, meinte sie aufs Geratewohl, »und er hat versucht, davor zu fliehen, indem er hergekommen ist …«
»Und was soll ich jetzt tun? Wenn er wiederkommt …« Emily zitterte. »Es ist so schrecklich … das kann nicht wahr sein …«
Sie hörten ein so lautes Krachen, daß Leslie einen Moment an ein Erdbeben dachte. Dann löste sich klirrend und splitternd die Scheibe aus dem Fenster; tausend Scherben prasselten zu Boden. Emily kreischte in panischer Angst auf. Von unten klang ein ähnliches Scheppern und Bersten herauf. Leslie warf sich einen Bademantel über und wollte nachsehen, doch Emily klammerte sich an sie.
»Nein, Les, bitte geh nicht! Es könnte ein Einbrecher sein, ein Mörder …«
Leslie wies auf die Glasscherben, die am Boden lagen. »Hat das etwa ein Einbrecher getan? Nein, Emily, ich gehe nach unten und schaue nach. Tritt nicht in die Glassplitter!«
Emily folgte ihrer Schwester. »Ich bleibe nicht allein in diesem Zimmer! Wenn er zurückkommt …«
»Fürchtest du dich etwa vor Simon? Vielleicht ist er zu dir gekommen, weil er dich brauchte?« sagte Leslie und versuchte zugleich, ihre aufwallende Eifersucht zu unterdrücken. Warum ist er Emily erschienen und nicht mir? Sie fuhr in ihre Hausschuhe, rannte die Treppe hinunter, schloß auf und stürzte nach draußen.
Im Garten war der Nebel so dicht, daß sie kaum den Weg zur Garage fand. Schwer und feucht hing der Jasminduft in der Luft. Leslie war nicht einmal erstaunt, im Atelier ein blasses, flackerndes Licht zu erkennen – von einer Kerze vielleicht? Sie drehte den Türknopf. Er war nicht verriegelt; dabei war sie sicher, abgesperrt zu haben, ehe sie ins Bett gegangen war. Hinter ihr war Emily aufgetaucht. Leslie trat ins Atelier. Sie vernahm das verzweifelte Jaulen eines gequälten Tieres, konnte im düsteren rötlichen Glühen der Kerze aber nur für einen Augenblick eine dunkle Gestalt erkennen, die wie im Gebet die Hände gehoben hatte.
»Simon!« schrie sie auf. »Simon, Liebster … wo bist du? Was tust du hier? Oh, Simon …«
Emily knipste das Licht an. Kahl und leer lag der Raum vor ihnen. Die gelben Gingham-Vorhänge blähten sich im Wind. Die kopflose Kleiderpuppe und die blaßgelben Wände waren unberührt. Die Nähmaschine stand ohne die Abdeckung da, und obenauf lag zusammengefaltet eine halbfertige rostrote Kissenhülle.
»Sieh doch, wie die Vorhänge wehen!« Emily zog sie beiseite. Auch hier war die Scheibe zerschmettert worden und lag in Scherben auf dem Boden.
»Irgend etwas hat dieses Glas zerbrochen. Etwas Stoffliches. Vielleicht doch ein Erdbeben?« murmelte Leslie wie betäubt.
»Soll ich die Polizei anrufen und einen Einbruch melden?« fragte Emily.
Und was sollen wir erzählen? Daß der Geist eines berühmten Konzertpianisten, Emilys Lehrer und zugleich mein Liebhaber, blutüberströmt im Zimmer meiner Schwester erschienen ist?
»Ich glaube nicht, daß es was nützen würde. Komm ins Haus, Emmie, mit deinen nackten Füßen wirst du dich erkälten. Am besten, du schläfst heute in meinem Zimmer. Wir hängen die Fenster mit Decken zu, und morgen rufe ich den Glaser.«
»Wenn du möchtest, kannst du auch deine Matratze ins Gästezimmer ziehen«, meinte Leslie. Emily hatte einen Schock erlitten und zitterte immer noch.
»Hast du was dagegen, wenn ich zu dir komme? Ich fürchte mich schrecklich, Les. Das da eben war Simon, nur … daß es aussah, als würde er sterben. Siehst du so etwas, wenn du
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