Die Hüter der Schatten
…«, Emily wußte nicht, wie sie es ausdrücken sollte, »… wenn du diese Sachen mit dem Hellsehen und so was machst? Meinst du, ich fange jetzt auch damit an?« Emily würde um keinen Preis der Welt mehr das Zimmer betreten, in dem die Glasscherben lagen.
»Wir können das Fenster doch nicht einfachoffen lassen, Emmie!«
»Was hat es für einen Sinn, das Fenster abzuschließen, wenn trotzdem irgendein Ding hereinkommen und die Scheibe zerschlagen kann? Außerdem geht das Fenster zum Garten und nicht zur Straße, und du hast selbst gesagt, kein Mensch könnte dort raufklettern«, argumentierte Emily und drückte sich unsicher im Flur herum. Schließlich gab Leslie nach. »Na schön, wir kümmern uns darum, sobald es hell ist.«
Emilys Nachthemd war vom Tau im Garten durchnäßt. Leslie lieh ihr ein frisches. Als ihre Schwester das Hemd überzog, fiel ihr Blick auf die Kerze. Sie trat darauf zu und betrachtete den Altar.
»Du meine Güte, was soll denn dieses Gerümpel?«
Leslie war im Moment nicht in der Lage, das zu erklären. »Ein andermal, Emmie, ja? Schlaf jetzt.«
Emily rollte sich an der Wand zusammen. Bald darauf vernahm Leslie ihre regelmäßigen Atemzüge. Sie selbst dagegen lag noch wach und starrte das rotglühende Auge der Kerze auf dem Altar an. Simon! Sie sehnte sich körperlich nach ihm, war aber auch voller Angst. Und wenn diese fürchterliche Vision mehr war als der Alptraum eines überarbeiteten Mädchens oder ein Trugbild, das aus nervöser Anspannung resultierte? Sollte Simon tatsächlich irgendwo verletzt oder getötet worden sein, würde Leslie es wahrscheinlich erst aus der Zeitung erfahren. Niemand würde sie informieren, denn sie war dem Mann, den sie über alles liebte, nicht offiziell verbunden, nicht einmal durch eine allgemein bekannte Liaison.
Zum erstenmal versuchte Leslie, ihre Kräfte bewußt einzusetzen, um Simon zu finden. Aber nichts geschah, und als sie bedrückt ins Dunkel starrte, kam ihr ein Satz in den Sinn, der von einer Gestalt aus einem der Bücher stammte, die Claire ihr geliehen hatte.
»Für gewöhnlich erwies meine hellseherische Gabe sich als verläßlich, außer in Angelegenheiten, die mich persönlich betrafen.«
Also war dies keine ungewöhnliche Erfahrung. Leslie war persönlich betroffen; außerdem tastete sie sich immer noch vorsichtig durch diese für sie neue Welt. Aber wozu war die ganze Hellseherei gut, wenn sie nur Gefahren für Menschen sehen konnte, die sie nicht kannte und die ihr noch dazu gleichgültig waren?
Leslie blieb liegen, starrte ins Leere und wünschte sich, sie könnte in Tränen ausbrechen, ohne ihre kleine Schwester zu wecken.
Schließlich glitt sie in den Schlaf und träumte.
Sie lag in einem dunklen Raum wie dem, wo sie eben noch gewesen war. Durch die Finsternis blickte sie in ein rotes Auge, und um sie herum glitten dunkle Gestalten in Kapuzenroben, die sie nicht deutlich zu erkennen vermochte. Der Weihrauch roch übel und erstickend, und sie hörte Sprechgesänge. Sie konnte sich nicht rühren, weil sie … mein Gott, ja, sie war an Händen und Füßen gefesselt und konnte nicht einmal schreien, weil ein Knebel in ihrem Mund steckte. Und dann fiel ihr wieder ein, daß sie aus irgendeinem Grund, in einem Moment geistiger Unzurechnungsfähigkeit, eingewilligt hatte. Doch sie wußte nicht mehr, aus welchem Grund.
Und wenn das vorüber ist? Werden sie mich dann in den grauen Wagen packen und irgendwo in die Bucht werfen? Er hat mir versichert, es wäre nur ein Spiel, bei dem durch Schmerz und Entsetzen übersinnliche Macht erzeugt würde. Bis jetzt habe ich mich noch nie geweigert, solche abartigen Spielchen mitzumachen. Aber ich glaube, das hier ist Ernst …
Demütigung und Grauen, hat er gesagt, bringen übersinnliche Kraft hervor; genau wie das Ritual der Heiligen Messe, wenn es durch einen geweihten Priester richtig und vollständig vollzogen wird, geistige Macht erzeugt. Und diese Dunkle Messe bringt noch größere Kraft hervor, weil sie an die ungenützten Energien appelliert, die jenseits unserer Zivilisation liegen, uralte Kräfte, deren Gedankenformen über Tausende von Jahren hinweg Macht aufgebaut haben, auf die niemand Anspruch erhebt und die darauf warten, daß jemand aus ihnen schöpft. Aber ich dachte, das wäre nur ein Vorwand für seine perversen Sexspiele. Er hat versprochen, mir würde nichts passieren, aber ich kenne die Sorte Mann gut genug, um zu wissen, daß da etwas ziemlich Heftiges auf mich
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