Die Hüter der Schatten
Schule.«
Leslie fiel etwas ein, und sie zögerte. »Vielleicht sollte sie doch lieber im Haus bleiben. An der Mauer wachsen giftige Rizinusbüsche, und wenn sie die Blätter oder Beeren pflückt …«
Susan lächelte unfroh. »Sie macht jedesmal einen Aufstand, wenn sie etwas anderes als Kartoffelpüree oder Babybrei essen soll. Da ist es unwahrscheinlich, daß sie sich etwas in den Mund steckt, das sie nicht kennt. Und wenn …« Sie preßte die Lippen zusammen, beendete den Satz jedoch nicht.
Doch während der Therapiestunde kam Susan noch einmal darauf zurück.
»Verstehen Sie mich richtig, ich möchte nicht, daß ihr etwas zustößt … Aber vorhin mußte ich daran denken, um wie vieles einfacher mein Leben wäre, würde ich eines Morgens aufwachen und feststellen, daß alles nur ein böser Traum war. Mit … ach, ich weiß nicht, zwei Jahren war sie ein wunderhübsches kleines Mädchen. So wie jetzt hätte ich mir das nicht vorgestellt. Ich hatte schon hirngeschädigte und geistig zurückgebliebene Kinder gesehen, aber Chrissy war so süß und niedlich mit ihren langen Wimpern und den großen Augen. Und jetzt …« Susan brachte es kaum heraus. »Sie sieht aus wie alle anderen geistig behinderten Kinder. Christina ist mein Kind, und in meinen Augen wird sie immer schön sein, aber sie ist … sie ist … so häßlich. So leer.« Die unglückliche Mutter schluchzte.
»Auf dem Tisch hinter Ihnen steht Kleenex«, sagte Leslie.
»Ich versuche mir immer wieder zu sagen, daß uns das aus irgendeinem bestimmten Grund zugestoßen ist. Nur kann ich mir nicht vorstellen, was das sein sollte, oder was das Kind oder ich davon haben sollen. Als wir von diesen giftigen Sträuchern sprachen, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß es eine Gnade wäre, wenn Chrissy etwas zustieße, ehe sie so groß wird, daß ich nicht mehr mit ihr fertig werde und sie in eine … eine Anstalt stecken muß.«
Leslie sprach gleichmütig weiter. »Haben Sie das schon überlegt?« Aber ihr Blick schweifte ab; sie hatte einen Wagen auf der Straße gehört und vermeinte, das Motorengeräusch wiederzuerkennen. Draußen vor dem Gartentor hielt hinter Susans verbeultem blauem Toyota ein grauer Mercedes, und dann kam Simon den Weg herauf.
Er bog ab und ging nicht zur Vordertür, sondern in den Garten. Oder bildete sie sich wieder ein, ihn zu sehen? Nein, Simon mochte eine Halluzination sein, aber sein Auto bestimmt nicht. Leslie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder Susan Hamilton zuzuwenden.
»Nein, natürlich wollen Sie nicht über eine Heimunterbringung nachdenken, noch nicht jedenfalls. Es drängt Sie doch nichts, oder?«
»Meine Familie setzt mich ziemlich unter Druck. Alle sagen, ich soll es tun, ehe ich nicht mehr mit ihr zurechtkomme. Aber ich will sie noch nicht verloren geben, Leslie. Das bringe ich nicht fertig!«
Wunder geschehen immer wieder. Aber kann ich Susan guten Gewissens ermutigen, auf eins zu hoffen? »Sie meinen also, Ihre Familie verlangt, daß Sie Ihre Tochter im Stich lassen?«
»Ich habe sie in einem Sommercamp für behinderte Kinder angemeldet. Dort bekommt sie noch einmal Sprachtherapie, und das Programm ist gut … Das Geld habe ich mir von meiner Schwester geliehen … Gott weiß, wie ich es je zurückzahlen soll. Aber ich glaube, Margaret hat es mir nur gegeben, um mir meinen Willen zu lassen, in der Hoffnung, daß ich zur Vernunft komme. Maggie hat gesagt, ich sei noch jung. Ich soll alles hinter mir lassen, sagt sie, und vergessen, daß Chrissy je existiert hat. Ich soll noch einmal heiraten und andere Kinder bekommen. Aber ich kann Christina doch nicht aus meinem Leben streichen, als hätte sie nie existiert! Und dieses Lager … sie ist noch nie allein von zu Hause weggewesen. Margaret behauptet, daß sie den Unterschied nicht bemerken und sich nichts daraus machen würde. Vielleicht möchte ich sehen, wie sie auf eine Trennung von mir reagiert … und natürlich hoffe ich, daß das Camp ihr guttun wird und ihr hilft, selbständiger zu werden. Irgendeinen Durchbruch zu schaffen. Ich weiß, daß sie tief im Inneren intelligent ist. Wenn nur jemand sie erreichen könnte! Manchmal tut sie Dinge, die auf Klugheit schließen lassen …«
Zum wiederholten Mal erzählte Susan ein paar Geschichten, die in ihr die Hoffnung erweckten, daß in Christina irgendwo Verstand steckte. Wenn nur jemand ihn zu wecken vermöchte! Sollte Leslie sie ermutigen? Der Teufelskreis aus Schuldgefühlen, Angst, Hoffnung
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