Die Hüter der Schatten
Mädchen. Sollen wir uns hier etwas kochen oder ausgehen? Entscheidet ihr. Dies hier …«, er hob die Hand kurz an das Brillengestell, »hat eine wunderbare Feier verdient. Andererseits sollten wir vielleicht in Ruhe etwas Passendes planen. Darf ich euch helfen, das Abendessen zu kochen, wenn ich verspreche, nicht wieder aus der Haut zu fahren?«
Emily lachte. »Weißt du was? Du kannst diesmal den Gourmet-Teil erledigen und die Crepes braten, und ich spiele die Küchenmagd und putze die Erdbeeren!«
Fröhlich machten sie sich an die Arbeit. Leslies Alptraum löste sich in nichts auf, als hätte er niemals existiert. Als Simon ein Omelett aus dem Backofen zog und neben einer Schale mit Gurken in Joghurt, aromatisiert mit einem winzigen Hauch Curry, auf den Tisch stellte, kam es den Schwestern vor, als wäre er niemals fort gewesen. Es war schwer sich vorzustellen, daß er nicht schon immer ein Teil ihres Lebens gewesen war. Die mit Puderzucker bestäubten Crepes hatte Simon unter einem vorgewärmten Geschirrtuch gestapelt, und in einem kleinen Kochtopf brodelte die köstlich duftende Soße. Inzwischen hatte er seinen eigenen Platz am Eßtisch, gegenüber von Emily.
»Wer war dieses gräßliche kleine Mädchen, das ich heute nachmittag im Garten gesehen habe?« fragte Emily. »Hmmm, das schmeckt gut, Simon«, fügte sie hinzu und nahm noch einen Bissen vom Omelett.
»Sie heißt Christina Hamilton.«
»Ich wußte noch gar nicht, daß du auch mit geistig behinderten Kindern arbeitest, Schatz«, meinte Simon.
»Das tue ich auch nicht. Ihre Mutter ist die Patientin. Susan konnte keinen Babysitter für Christina auftreiben, also hat sie das Mädchen mitgebracht. Ich dachte, es ist schöner für sie, im Garten zu spielen, als im Büro zu sitzen.«
Emily rümpfte die Nase. »Arme Frau, mit einem solchen Kind gestraft zu sein. In jeder halbwegs vernünftigen Gesellschaft würde man wegen dieser schwachsinnigen Kinder irgend etwas unternehmen. Wenn man so ein armes Wesen anschaut, bekommt man direkt Angst, jemals Kinder in die Welt zu setzen.«
»Soweit wir wissen, ist Chrissy weder schwachsinnig noch geistig behindert«, entgegnete Leslie, obwohl sie sich nicht gern auf eine Diskussion über eine Patientin einließ. »Sie kann bloß nicht sprechen. Vielleicht hat sie einen Hirnschaden. Möglicherweise ist sie intelligent. Nur kann sie sich nicht mitteilen.«
»Kein Wunder, daß die Frau Probleme hat«, bemerkte Emily. »So ein Kind sollte man in eine Anstalt stecken!« Sie erschauerte, und Leslie mußte sich daran erinnern, daß Emily noch sehr jung war.
»Chrissy ist weder gewalttätig noch gefährlich. Warum sollte man sie in einem Heim unterbringen?«
»Weil sie«, verkündete Emily heftig, »für die Gesellschaft niemals auch nur den geringsten Nutzen haben wird! Irgendein Typ hat mal geschrieben, das größte Übel wäre, zu konsumieren, ohne zu produzieren. Und das trifft ja wohl auf Schwachsinnige zu.«
»Ich glaube, das hat Karl Marx gesagt«, bemerkte Leslie.
»Mir egal, ob es Marx oder Hitler war oder der Teufel in Person«, meinte Emily. »Deswegen stimmt es trotzdem.«
»Meiner Meinung nach können wir uns solche Pauschalurteile nicht erlauben«, erwiderte Leslie. »Woher sollen wir wissen, ob Kinder wie Christina nicht doch wertvoll sind? Ich jedenfalls würde nicht die Verantwortung übernehmen wollen, das Gegenteil zu behaupten.«
»Ist das etwa dieses alte sentimentale Gerede von der Ehrfurcht vor dem Leben?« sagte Emily. »Wenn es eine solche Gestalt annimmt, kann ich es nicht achten!«
»Was Emily sagt, ist so neu nicht«, meldete Simon sich zu Wort. »Im alten Sparta verlangte das Gesetz, Kinder, die nicht vollkommen waren, im Gebirge auszusetzen. Der Gesellschaft hat das genützt. Außer dem Menschen beachtet jede Art das Gesetz vom Überleben des Stärksten. Aber das, was wir in unserer unermeßlichen Weisheit die Zivilisation nennen, hat bestimmt, daß wir nutzlose Passagiere und lebensunwertes Leben mitschleppen. Ich weiß wirklich nicht, ob das richtig ist. Kann das Leben denn einem solchen Kind etwas bedeuten?«
Leslie hatte keine Ahnung und sagte das auch. »Ich bin nur froh, daß diese Entscheidung nicht bei mir liegt«, meinte sie. »Im Dritten Reich hat man solche Kinder getötet, aber ich habe, weiß Gott, nichts für die Nazis übrig und bin nicht der Ansicht, daß man ihrem Beispiel folgen sollte!«
»Warum regen wir uns eigentlich wegen eines schwachsinnigen Kindes auf, das
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