Die Hüter der Schatten
»Oh, das wäre schön«, rief sie. Dann zögerte sie und warf Simon einen Blick zu. Der schüttelte kaum merklich den Kopf. »Aber ich fürchte, ich habe keine Zeit, Frodo. Trotzdem danke für die Einladung.«
Der junge Mann trat auf Simon zu und starrte ihn finster an. »Sagen Sie mal, Dr. Anstey, braucht Emily Ihre Erlaubnis, um auszugehen? Haben Sie sie adoptiert oder so was? Halten Sie sich für ihren Vormund?«
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Simon. »Emily kann gehen, wohin sie möchte. Ich glaube allerdings, daß sie heute abend etwas anderes vorhat.«
»Frodo«, sagte Emily, »ich muß wirklich arbeiten. Und wenn du dich nicht mal anständig benehmen kannst …« Sie hielt inne und fuhr höflicher fort: »Tut mir wirklich leid. Vielleicht ein andermal.«
»Na schön. Aber es hätte dir bestimmt gefallen, ein paar von diesen Instrumenten zu hören.« Er schaute Emily unverwandt an und schien nicht gehen zu wollen.
»Spielst du wieder in einem Orchester, Paul?« fragte Simon kurz angebunden.
»Nein, im Moment nicht. Ich wollte mal eine Zeitlang aussteigen und herausfinden, ob das wirklich mein Lebensziel ist«, antwortete Frodo. »Mir gefällt es, mit den Händen zu arbeiten, alte Instrumente zu erforschen und nachzubauen. Gerade Sie mit Ihren Cembalos müßten das eigentlich verstehen.«
»Nein, das verstehe ich nicht«, versetzte Simon. »Du vergeudest dein Talent.«
»Das sagt mein Dad auch. Aber ich habe einfach keine Lust, in einem Orchester zu spielen, wenn ich mich dazu in eine Affenjacke werfen muß. Was hat elegante Kleidung damit zu tun, ob ich Querflöte spielen kann oder nicht? Das kommt mir alles so verflucht künstlich vor, als wäre die Musik bloß ein Spielplatz für reiche Leute. Und das ist nicht meine Vorstellung von Musik.«
Simon zuckte die Achseln. »Diese Theorie habe ich schon öfter gehört. Manche nennen sie kommunistisch oder radikal. Für mich zeigt sie bloß einen bedauerlichen Mangel an Disziplin. Was macht es schon aus, welche Kleidung man trägt? Das Wichtige ist, nach bestem Vermögen zu spielen.«
»Das ist es ja gerade«, entgegnete Frodo. »Ist es nicht egal, was ich anhabe, wenn ich spiele?«
»Ich fürchte, wir werden uns über dieses Thema nicht einig, Paul«, meinte Simon und warf eine letzte Zitrone in den Korb. »Emily, ich sollte den Korb lieber nicht heben. Könntest du ihn für mich nach drinnen tragen? Ich räume inzwischen die Gartengeräte weg.«
»Natürlich, Simon.«
Frodo folgte Emily und versuchte, ihr den Korb abzunehmen. »Emmie, darf ich später noch einmal vorbeikommen und mit dir reden? Allein?«
Sie schlug die Augen nieder. »Ach, Frodo, ich weiß nicht, was für einen Sinn das haben sollte. Und ich bin kein Schwächling, ich kann die Zitronen allein tragen!«
Ärgerlich stapfte der junge Mann durch das Gartentor, die Leiter unter den Arm geklemmt, während Emily den Korb in die Küche brachte. Leslie folgte ihr und sah, wie sie sich verstohlen eine Träne abwischte. »Ich weiß, daß Frodo nicht gut für mich ist«, seufzte Emily. »Aber ich kann nicht anders, er fehlt mir trotzdem.« Sie stellte die Zitronen auf die Küchentheke, wischte sich übers Gesicht und ging ins Musikzimmer.
Simon kam herein. »Emily braucht Freunde in ihrem Alter, Schatz«, sagte Leslie.
»Daß ich ausgerechnet von dir hören muß, wie du das Hohelied der gesellschaftlichen Anpassung singst«, erwiderte der Musiker steif. »Emily ist anders als andere junge Leute. Ich dachte, du wüßtest das und würdest es schätzen.«
»Sie wäre heute abend gern mitgefahren …«
»Ich kenne Paul Frederick gut«, meinte Simon. Leslie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, daß er von Frodo sprach. »Er ist talentiert, wirklich sehr begabt, aber er hat keinen Ehrgeiz, keinen Antrieb. Man kann eine solche Gabe nicht vergeuden und trotzdem erwarten, daß man es je zu etwas bringt. Paul und Emily leben in verschiedenen Welten. Ich hätte gedacht, du begreifst das. Oder findest du wirklich, daß dieser … dieser Hippie der richtige Mann für deine Schwester ist?« Er ging ins Musikzimmer. Leslie wollte ihm folgen, seufzte dann aber und ließ es bleiben. Simon mußte sich selbst mit Emily auseinandersetzen; sie durfte sich nicht einmischen, wenngleich sie einen Mangel an Ehrgeiz oder Erfolgsorientierung nicht für ein Kapitalverbrechen hielt.
Es wurde Zeit für Susan Hamiltons Termin. Leslie ließ sie ein und erkundigte sich wie üblich nach Christinas Befinden
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