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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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ihre Probleme zu erzählen. Ärger oder Zorn zu zeigen, gehört sich für ein weibliches Wesen nicht. Ich habe mich schon oft gefragt, wie viele andere psychologische Probleme mit Sex verbunden sind. Die Männer bekommen meist Magengeschwüre, soweit ich weiß …«
    »Das hat solange gestimmt, bis die Frauen ebenfalls Führungspositionen bezogen haben und in den Konkurrenzkampf eingestiegen sind«, meinte Leslie. »Aber dafür ist die Relation bei autistischen Jungen und Mädchen acht zu eins.« Dies war einer der Gründe dafür, daß sie gezögert hatte, die Diagnose Autismus bei Christina Hamilton zu akzeptieren. »Der Defekt könnte erblich bedingt sein oder auf einem Chromosomenschaden beruhen, weil er so deutlich an das Geschlecht gebunden ist.«
    Simon schürzte die Lippen. »Das mag der Grund dafür sein, daß man solche Kinder immer noch für wert hält, die Zeit eines Therapeuten auf sie zu verschwenden – Jungen tragen schließlich das kostbare Familienerbe weiter. Vielleicht hatte ich ja Glück, daß ich als vaterloses Kind diesem Druck nicht ausgesetzt war. Ich habe Männer gekannt, die einen begabten Sohn fast im selben Maße als Familienkatastrophe betrachtet haben wie einen zurückgebliebenen oder behinderten Jungen. Denn wahrscheinlich wird weder der eine noch der andere das Familiengeschäft übernehmen. Und ich bin fest davon überzeugt, man hätte die Euthanasie längst gestattet oder sogar verlangt, würde die Bluterkrankheit nur bei Mädchen auftreten. Aber welcher Vater würde seinen Sohn opfern?« Er lachte im Dunkel auf. »Meiner. Ich frage mich, ob er je von mir erfahren hat.«
    »Ich kann mir keinen Vater vorstellen, der einen Sohn wie dich nicht mit Freuden willkommen hieße, Simon.«
    »Ich glaube, wir sollten noch ein wenig schlafen«, versetzte er barsch – eine neuerliche Warnung, das Thema nicht weiter zu vertiefen.
    Erstaunlich, überlegte Leslie, als sie im Finsteren hellwach neben Simon lag, daß er nie versucht hat, seine vaterlose Jugend zu kompensieren, indem er selbst einen Sohn zeugte. Üblicherweise glich man solche Erfahrungen aus, indem man den eigenen Kindern schenkte, was man selbst im Leben entbehrt hatte. Und Simon hatte noch ein Erbteil weiterzugeben: sein Talent. Leslie erkannte wieder einmal, wie gern sie ein Kind von Simon hätte. Aber sie war noch nicht bereit für die Mutterschaft; außerdem hegte sie den Verdacht, daß Simon sich niemals Kinder wünschen würde. Doch ob er jemals ein leibliches Kind zeugte oder nicht – Simon hinterließ der Welt seine Musik. Um so mehr, als er weiterhin unterrichtete. Doch ein Lehrer mußte Kompromisse schließen und auch Schüler annehmen, die über wenig oder kein Talent verfügten; seine Perlen freiwillig vor die Säue werfen und nur wenig zurückverlangen. Wie viele Lehrer entdeckten im Laufe ihrer lebenslangen Tätigkeit auch nur ein Genie?
    Und dann, kurz bevor Leslie in den Schlaf hinüberglitt, fragte sie sich, warum sie so dachte. Mit dem, was Simon schon jetzt für Emily getan hatte, war sein ganzes Leben gerechtfertigt. Und warum war sie der Meinung, daß seine Karriere endgültig vorüber sei? Machte sie genug Zugeständnisse, was seinen unglaublichen Willen und seine Entschlossenheit betraf? Für einen ausgebildeten Willen ist nichts unmöglich … War das bloß magisches Denken, das sich weigerte, das Unabänderliche zu akzeptieren, oder stellte diese Einstellung den wahren Schlüssel zum Universum dar?
    Die Meisterklasse, in die Simon Emily aufgenommen hatte, war vorerst die letzte in San Francisco gewesen, doch er hatte noch Einzelunterricht an einer Musikschule in Dallas zu erteilen. Am Sonntagmorgen fuhr Leslie ihn zum Flughafen.
    »Wenn ich zurück bin, Liebste, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir es zuwege bringen können, zusammenzuleben. Ich möchte nicht mehr ohne dich sein«, erklärte Simon. »Jetzt ist nicht die rechte Zeit für einen Heiratsantrag, aber gegen diese ständigen Trennungen müssen wir etwas unternehmen!«
    »Mit dir reisen könnte ich aber nicht, Simon«, entgegnete Leslie. »Ich habe meine Arbeit. Auch bin ich Verpflichtungen eingegangen, die ich nicht aufkündigen kann.« Gern sagte sie das nicht; genau an dieser Frage war ihre Beziehung zu Joel gescheitert.
    »Natürlich nicht«, antwortete Simon so selbstverständlich, daß Leslie schier überwältigt war. »Und inzwischen sieht es aus, als müßtest du dazu noch Alisons Arbeit übernehmen. Aber wenn man genug Zeit

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