Die Hüter der Schatten
andere Wahl. Ich … kann … nicht. Ich werde mich nicht … ergeben.«
Am liebsten wäre Leslie in Tränen ausgebrochen, hätte ihn angefleht. Dieser Kampf zerstörte Simon, trieb ihn zu unmenschlichen Handlungen, zu den fürchterlichen Exzessen, die er ihr gestanden hatte. Welche inneren Kräfte peitschten ihn so unbarmherzig voran? Wie konnte sie dafür sorgen, daß Simon weniger unerbittlich mit sich selbst umging?
Er umarmte sie fester. »Als ich heute morgen aufwachte, sah ich alle Themen für das Finale meines Concerto vor mir. Aber den ganzen Tag mußte ich unterrichten … meine Zeit vergeuden, obwohl kein Schüler in dieser Klasse, nicht ein einziger, auch nur halb so begabt ist wie Emily. Trotzdem bin ich diese Verpflichtung eingegangen, habe mich selbst in Ketten gelegt, um meine Vorlesungen zu halten, und dabei wird keiner dieser jungen Trottel sich je daran erinnern, was ich ihn gelehrt habe, oder davon profitieren. Auch Alison hat ihre Gabe an Minderwertige verschwendet, hat Perlen vor die Säue geworfen. Und du, Leslie, erschöpfst dich bis auf die Knochen für Menschen, die deinen Wert niemals erkennen oder schätzen werden …«
Er machte sich von Leslie frei, ging zum Flügel und begann zu spielen; eine Variation des Themas, das er für Emily gespielt hatte. Sein Concerto. Vom strahlenden Hauptthema ging er zu einem anderen über; ein Hauch von Niedergeschlagenheit und Qual schlich sich verstohlen in die Musik ein. Leslie fühlte, wie er mit dem Thema kämpfte und sich in eine Raserei aus Verlust und Verzweiflung steigerte. Beim Zuhören verlor Leslie jeden Zeitbegriff, war so auf Simon eingestimmt, daß sie jeden technischen Fehler hörte und spürte.
Simons geschädigte Finger wurden müde, bis er dem komplexen Charakter seiner Komposition nicht mehr gewachsen war; er bemerkte es und wiederholte mit angespanntem, wutverzerrtem Gesicht die schwierige Passage ein ums andere Mal. Schließlich drosch er mit der Hand wie rasend auf die Tasten ein. Das Weinglas flog durchs Zimmer und zerschellte an der Wand, und Simon sank nach vorn. Sein Körper erstarrte in einem qualvollen Krampf, nur seine Schultern zuckten. Leslie fühlte das lautlose Schluchzen, das ihn schüttelte.
»Simon«, rief sie, stürzte zu ihm und schloß ihn in die Arme. »Nicht. Laß das jetzt. Komm ins Bett«, flehte sie.
»Ich schaffe es, Leslie. Ich werde das Concerto spielen.« Seine Stimme war kaum zu vernehmen. »Für den … ausgebildeten Willen … ist nichts unmöglich.«
Er hatte geflüstert, doch für Leslie klangen die Worte wie ein Aufschrei, ein Urschrei voller Zorn und wilder Entschlossenheit. Sie drückte ihn an sich, und nach langer Zeit hob er den Kopf.
»Leslie«, sagte er, als würde er erst jetzt ihre Anwesenheit bemerken. »Was bin ich für ein Narr, um diese Zeit zu spielen und die schönste und verführerischste Frau der Welt warten zu lassen.« Er stand auf, schlang den Arm um sie und führte sie ins Schlafzimmer.
Sie fand sich in der Garage wieder, umgeben von einem Kreis aus blauem Licht, den sie nicht überschreiten konnte. Sie saß darin gefangen und spielte auf einem Cembalo. Dann fiel ihr ein, daß sie in diesem Leben keine Musikerin war; diesmal war Emily an der Reihe. Sie bewegte sich durch ein alptraumhaftes Dunkel, doch irgendwo über ihnen schwebte Simon und rang mit einer Entscheidung, denn seine Hand blutet und sie wußte, daß er ein weiteres Menschenopfer brauchte. »Ich würde dir nur zu gern meine Hand schenken«, hörte sie Colin sagen. Aber Colins Hände, dachte sie, nutzen Simon nichts, denn in dieser Inkarnation versteht er sich nicht auf Musik. Also muß es Emily sein, oder ich selbst. Ich hätte ebenso gut spielen können wie Emily, aber jetzt ist sie an der Reihe, und meine Rolle besteht darin, sie zu unterstützen und zurückzutreten, während sie den Applaus einheimst. Doch Simon kann es nicht ertragen, wenn jemand anders den Beifall erntet … Auf dem Altar lag gefesselt die Katze, und irgendwo war auch Susan Hamilton, die nach ihrer Tochter suchte. Aber Simon lachte. Ich habe Chrissy in eine Katze verwandelt, sagte er und wies auf den Altar, wo blutend, zerbrochen und zerrissen die Katze im Zentrum des blauen Lichtkreises lag. Obwohl sie nicht annähernd soviel Wert hat wie eine von Alisons Katzen.
Und dann hielt sie Simon in den Armen, der von krampfhaften Schmerzen geschüttelt wurde, denn die Katze hatte ihm die Krallen ins Auge geschlagen, und das Blut strömte aus
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