Die Hüter der Schatten
kleinen Konditoreien einzukehren und sich einen Cappuccino und ein Croissant zu gönnen, oder vielleicht ein Stück Kuchen. Sie konnte immer noch das Mittagessen überspringen, wenn sie das Gefühl hatte, mit zu viel Schokolade oder Zucker gegen ihre Diät verstoßen zu haben. Natürlich war das eine Sünde, aber dieser Tage hatte sie kaum Gelegenheit, auch nur die harmlosesten Schandtaten zu begehen. Sie betrat eines der Cafes und nahm genießerisch die köstlichen Düfte nach Butter und Schokolade in sich auf und das Aroma von Zimt und anderen Gewürzen. Sie trat an den Ladentisch und versuchte, sich zwischen Erdbeertörtchen mit Schlagsahne und Rumkuchen mit Kirschcreme-Füllung zu entscheiden, als ihr ein vertrautes grünes Batikhemd und langes blondes Haar, zu einem elfenhaften Pferdeschwanz zusammengebunden, ins Auge fielen. Frodo sah sie nicht, denn er lehnte sich über den Tisch, und seine Stirn berührte fast Emilys Haar. Vor den beiden standen vergessen ihre Tassen mit einem dampfenden, schaumigen Getränk. Die jungen Leute hielten sich an den Händen. Bevor der Verkäufer Leslie ansprechen konnte, drehte sie sich verwirrt um und floh nach draußen.
Gott sei Dank, Liebes. Ich hatte schon Angst, du hättest dich so auf Simon fixiert, daß du nicht den kleinsten Schritt ohne seine Erlaubnis tun kannst. Andererseits war Simon gut zu Emily gewesen … aber die Beziehung zwischen den beiden war kein Liebesverhältnis und konnte auch nie eines werden.
In gehobener Stimmung ging Leslie nach Hause. Simon würde es Emily vielleicht übelnehmen, wenn er sie mit Frodo sah, aber er mußte lernen, daß er nicht jede Facette von Emilys Privatleben kontrollieren konnte. Er hatte einmal erklärt, Emily sei wie eine Tochter für ihn. Aber Töchter werden erwachsen; Simon würde sich daran gewöhnen müssen, wie alle Väter auf der Welt. Leslie erwähnte den Vorfall Emily gegenüber nicht; und auch Simon würde sie nichts davon sagen, wenn er heute abend anrief.
Im August wurde Emily achtzehn. Vielleicht konnten sie zu ihrem Geburtstag eine verspätete Einweihungsparty geben. Das Atelier – beziehungsweise die Garage – wäre der geeignete Ort dafür; von dort konnte die Feier sich bis in den Garten ausdehnen. Vielleicht würde Simon sich eher mit Emilys Selbständigkeit abfinden, wenn er sie mit gleichaltrigen Freunden erlebte. Emilys Freundschaft zu Frodo war schließlich immer noch ziemlich harmlos. Sie hatte nie an den üblichen Verabredungsritualen teilgenommen, deshalb war dies das erste Mal, daß Emily auf kindlich-naive Weise zaghaftes Interesse an einem männlichen Wesen bekundete. Vielleicht konnte Leslie die Nachbarn zur Party einladen, die Leute aus dem Buchladen – zumindest Claire und Colin, möglicherweise auch Rainbow. Und Freunde vom Konservatorium. Und vor allen Dingen Frodo.
Beim Abendessen – Leslie hatte sich ein Kotelett gebraten, und Emily aß eine Ofenkartoffel, die sie unter Bergen von geriebenem Käse erstickte – wartete sie ungeduldig darauf, daß das Telefon klingelte. Später setzte Leslie sich ins Büro, um ihre Notizen über die Patienten niederzuschreiben, die am heutigen Tag bei ihr gewesen waren. Sie erkannte, daß die Kuckucksuhr ihr sehr fehlte; wenn sie nicht mehr zu reparieren war, würde sie sich eine neue kaufen. Das Telefon klingelte, doch es war nur eine Studentin vom Konservatorium, die Emily nach einer Adresse fragen wollte, wo man Notenblätter bekam. Und beim nächsten Läuten bot ihr ein Zeitschriftenwerber »zwei Monate zum Preis von einem« an, wenn sie den San Francisco Examiner abonnierte. Um halb elf hatte Simon immer noch nicht angerufen.
Als Leslie zu Bett ging, machte sie sich ein wenig Sorgen, sagte sich dann aber, daß Simon den Tag wahrscheinlich mit seinem Freund verbracht hatte, dem Dirigenten. Außerdem war da die Zeitverschiebung. Morgen früh würde er sich schon melden. Als Leslie in den Schlaf hinüberglitt, wünschte sie sich, Simon mit ihren Gedanken erreichen zu können, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte. Und selbst wenn sein Gespräch mit Heysermann über sein Comeback-Konzert und das Concerto positiv verlaufen war und er im siebenten Himmel schwebte, hätte Leslie ihn gern in den Armen gehalten. Noch im Schlaf horchte sie auf das Klingeln des Telefons und hoffte, Simon würde wissen, daß es ihr nichts ausmachte, von seiner Stimme geweckt zu werden.
Zuerst glaubte sie, das Klingeln gehört zu haben. Oder hatte Emily wieder einen
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