Die Hüter der Schatten
ich mag es nicht, wenn du redest, als wärst du uralt. Du bist müde, Simon, und nach dem, was du erlebt hast, noch dazu deprimiert. Komm schlafen.«
Ungeduldig wandte er sich vom Fenster ab. »Ich bin nicht müde. Laß uns nach unten gehen und den Kühlschrank plündern. Vielleicht hätte ich doch etwas essen sollen.«
Doch während Leslie gegrillte Käsesandwiches zubereitete, schlenderte Simon ruhelos in den Garten hinaus. Leslie stellte die Brote in den Wärmeofen und folgte ihm. Der Mond stand voll und hell am Himmel, und die Tür zum Atelier war offen. Als Leslie eintrat, sah sie Simon schweigend dort stehen. »Wer hat sich hier drinnen zu schaffen gemacht?« fragte er.
Sie hätte wissen müssen, daß er die veränderte Atmosphäre bemerken würde. Gestern hatte sie hier gesessen, Kissen genäht und keine Spur jener Depressionen empfunden, die sie beim letzten Versuch, in diesem Raum zu arbeiten, überfallen hatten. »Claire und ich haben ein Bannritual durchgeführt. Der Raum war praktisch unbewohnbar geworden, Simon.«
»Das hätte ich mir denken müssen. Ich habe diesen Ort seit mehr als einem halben Jahr nicht betreten, und wer weiß, was Betty Carmody, diese Idiotin, hier eingeschleppt hat. Aber ich kann die Atmosphäre, die ich benötige, jederzeit wieder aufbauen«, erklärte Simon von der Mitte des Raumes aus, wo Claire gestanden und ihre Segnungen gesprochen hatte. Dann warf er Leslie einen zögernden Blick zu. Er hatte die Neonröhren nicht eingeschaltet, so daß das einzige Licht aus dem mondbeschienenen Garten durch die offene Tür ins Innere fiel.
»Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn ich diesen Raum wieder als Tempel benütze …«
Was, in aller Welt, sollte Leslie darauf antworten? Ihr stockte der Atem.
»Ich dachte, ich wäre weit genug gegangen«, überlegte Simon halblaut, als würde er mit sich selbst reden. »Diese Reise muß eine Prüfung für meine Willenskraft und Entschlossenheit gewesen sein. Für den ausgebildeten Geist ist nichts unmöglich«, schloß er, beinahe im Flüsterton. Irgend etwas in seiner Stimme ließ Leslies Blut erstarren, aber sie ging darüber hinweg. Sie lebten schließlich im zwanzigsten Jahrhundert und nicht im vierzehnten, und der Mann an ihrer Seite war gebildet und weltmännisch und kein ungeschliffener Prolet. Leslies Schweigen hielt so lange an, daß Simon sich fragend zu ihr umwandte. Dann nahm er sie lächelnd in die Arme.
»Die Käsesandwiches sind inzwischen wahrscheinlich zäh wie alte Autoreifen. Laß uns ins Haus gehen und unseren Mitternachtsimbiß essen, ehe Emily und der junge Bursche nach Hause kommen. Ich will nicht, daß sie uns wie Teenager beim Knutschen in der Küche erwischen.«
Ehe Frodos Lieferwagen draußen vorfuhr, hatte Leslie die Uhr zuerst zwölf und dann eins schlagen hören. Nach einem seiner fürchterlichen Schmerzanfälle war Simon in einen Schlaf der Erschöpfung gefallen, aber Leslie lag noch wach. Sie war zutiefst besorgt. Ich dachte, ich wäre weit genug gegangen. Vielleicht war diese Reise eine Prüfung für meine Willenskraft und Entschlossenheit, hatte Simon gesagt. Leslie fragte sich, ob er von neuem über die verrückte Idee eines rituellen Opfers nachdachte. Welcher Mensch, der so viel durchgemacht hatte, würde nicht nach jedem Strohhalm greifen? Die einzige Frage lautete, wie weit er diesmal gehen würde. Und konnte sie einfach danebenstehen und zusehen – in der Hoffnung, daß eine solche Handlung tatsächlich seinen Genesungswillen stärkte? Und wenn nicht – auf welche Weise sollte sie eingreifen?
Wenn ich könnte, würde ich Simon mein Augenlicht und meine Hände schenken, dachte sie verzweifelt. Bis jetzt hatte sie es immer für eine romantische Übertreibung gehalten, wenn sie gehört hatte, wie Menschen im Namen der Liebe solche Äußerungen machten. Aber sie wußte, daß es ihr Ernst war. Bei ihrer Arbeit war sie weder auf ihre Hände noch auf ihre Augen angewiesen. Natürlich, wie jeder Mensch würde sie schrecklich unter dem Verlust der Hände und der Augen leiden, doch es würde nicht ihr Leben zerstören.
Würde ich mein Leben für ihn geben?
Nein. Das nicht. Das war keine Liebe, sondern Wahnsinn. Aber alles andere, bei dem sie eine vollständige, eigenständige Person bleiben würde, wenn auch äußerlich behindert … ja, ein solches Opfer würde sie Simon bringen, ohne zu fragen, was es sie kostete. Während sie in den Schlaf glitt, dachte sie noch: Wenn es ein Ritual gäbe, das
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