Die Hüter der Schatten
»Ach, zum Teufel damit.«
Leslie beschloß, ihm auch die anderen schlechten Neuigkeiten zu berichten. »Der Versicherungsvertreter schien zu glauben, ich hätte einen Versicherungsbetrug vor, Liebling, oder hätte mich mit dir zusammengetan, um eine wertvolle Antiquität verschwinden zu lassen, und jemanden bezahlt, damit er ein billiges Cembalo zerschlägt, wie das Instrument, das Frodo aus einem Bausatz gefertigt hat. Ich hatte keine Ahnung, daß Versicherungsleute eine so lebhafte Phantasie besitzen. Ich dachte eher, sie hätten überhaupt keine. Als sie das Cembalo abtransportieren ließen, hat Emily ihnen gesagt, sie sollten Groschenkrimis schreiben, denn nicht mal das Fernsehen würde diese Story kaufen.«
»Tut mir leid, daß sie dir deswegen zugesetzt haben«, sagte Simon. »Ich hätte lieber den Verlust in Kauf genommen, als daß man euch belästigt. Die wirklich wertvollen Stücke besitzen ohnehin die Museen. Natürlich bedaure ich den Verlust. Das Cembalo hatte einen schönen Klang und war eines von Alisons Lieblingsinstrumenten. Aber abgesehen vom rein sentimentalen Wert …« Er zuckte die Achseln. »Ist denn jetzt wenigstens alles ruhig? Hat man den Psychopathen gefaßt, der das getan hat?«
»Nein, keine Spur von ihm.« Leslie wollte in die Ausfahrt einbiegen, die zu seiner Wohnung führte, doch Simon sagte: »Hast du etwas dagegen, direkt zum Haus zu fahren, Leslie?«
»Natürlich nicht. Ich dachte nur, du würdest gern dein Gepäck abstellen.«
»Dieses Leben in zwei Wohnungen ist verrückt. Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, erklärte Simon. »Vielleicht können wir nächstes Jahr dafür sorgen, daß Emily das Juilliard besucht oder in Frankreich bei Reszke oder Goldblatt studiert. Ich würde gern selbst mit ihr weiterarbeiten, aber so Gott will, werde ich mich im nächsten Jahr wieder auf Tournee befinden, und Emily braucht einen Lehrer, der sich voll und ganz auf sie konzentriert. Nicht alle Dirigenten sind wie Heysermann.«
Aber Emily hatte behauptet, Simon sei nicht in der Lage aufzutreten. Und nun waren anscheinend auch Heysermann und der Dirigent in Montreal dieser Meinung. War es möglich, daß sie sich alle irrten? Leslie biß sich auf die Unterlippe. Selbstvertrauen zu besitzen und nie die Hoffnung zu verlieren war die eine Seite der Medaille. Aber weigerte Simon sich möglicherweise, die von der Realität gesetzten Grenzen zu akzeptieren? War es denn ein so furchtbares Schicksal, sich mit einer Karriere als Dirigent, Komponist und Dozent abzufinden?
Für den ausgebildeten Willen ist nichts unmöglich. War es grausam und illoyal von ihr, wenn sie an Simon zweifelte? Konnten ihre Bedenken zu seinem Scheitern beitragen? Wo endete die Realität, und wo begann das Reich der Phantasie?
Nur das Publikum zählt. Den Rest der Zeit verbringen wir wie tot. Wir Künstler erwachen nur auf der Bühne richtig zum Leben. Simon wäre nicht er selbst, hätte er sich mit weniger als seiner vollständigen Genesung abgefunden … zu welchem Preis auch immer.
Langsam fuhr Leslie hinter einem Trolleybus mit der Fensteraufschrift PARNASSUS und mehreren schwer beladenen Lastwagen die Haight Street hinauf, um schließlich erleichtert von der dichtbefahrenen Straße abzubiegen und hügelaufwärts am Buena Vista Park vorbeizufahren. Als sie vor ihrem Haus hielt, sah sie erschrocken, daß Frodos Wagen davor parkte. Das war taktlos von Emily; sie wußte schließlich, was Simon von dem jungen Mann hielt.
In der Diele zog Simon Leslie an sich. Er war kein Mann, der in der Öffentlichkeit Gefühle zeigte. Der Kuß im Wartesaal hätte ebensogut einer Schwester gelten können. Als Leslie sich schließlich von ihm löste, bemerkte sie, daß Emily lächelnd in der Tür des Musikzimmers stand und applaudierte.
»Bravo! Willkommen daheim, Simon«, rief sie und umarmte ihn begeistert. Lachend klopfte er ihr auf den Rücken.
»Dir scheint es ja gutzugehen«, meinte er, und die Miene des Mädchens trübte sich.
»Ach, Simon, dein wunderschönes Cembalo …«
»Mach dir deswegen keine Gedanken.« Den Arm um Emilys Schultern gelegt, trat er mit ihr in den Musikraum. »Hast du ein gutes Klavier gefunden, um die Zeit zu überbrücken, bis dein Flügel zurück ist? Ah, ein Steinway. Das ist ein gutes Instrument. Viele Leihfirmen versuchen heutzutage, einem diese neuen japanischen Klaviere anzudrehen. Ich möchte keines geschenkt haben. Aber derzeit gibt es auch kein amerikanisches Instrument, das auch nur den
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