Die Hüter der Schatten
›Amityville‹-Spuk umgeht, und wollen es loswerden, ehe die Geschichte sich herumspricht.«
Kühl erwiderte Emily, der Vorfall von Amityville sei schließlich als Schwindel entlarvt worden; ohnehin hätte niemand, der auch nur einen Funken Verstand besäße, an solchen Unsinn glauben können. Emily holte sich einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank, als das Telefon klingelte. Sie wollte abnehmen, doch Leslie stand näher am Apparat.
»Barnes.«
»Leslie Barnes?« fragte eine unbekannte Stimme, und Leslie seufzte erleichtert. Jetzt erst wurde ihr klar, daß sie mit angehaltenem Atem auf das heftige, nicht-menschliche Keuchen des anonymen Anrufers gewartet hatte.
»Ja. Wer spricht denn da?«
»Sie kennen mich nicht, Dr. Barnes, aber ich habe Ihren Namen und Ihre Telefonnummer von Sergeant Beckenham von der Polizei in Sacramento bekommen. Ich bin Lieutenant Charles Passevoy, Mordkommission Santa Barbara. Wir haben hier eine sehr merkwürdige Vermißtenanzeige. Ein kleines Mädchen. Wären Sie bereit, sich in ein Flugzeug zu setzen und herzukommen, um das Kind zu suchen? Wir haben davon gehört, wie Sie das junge Mädchen gefunden haben, als damals in Sacramento dieser Rattenschwanz-Mörder …«
Panik schnürte Leslie die Kehle zu. Es ging schon wieder los. Innerlich verfluchte sie Nick, diesen Trottel, der ihre Nummer herausgerückt, und den Enquirer, der mit seinen Sensationsberichten dafür gesorgt hatte, daß sie immer wieder solche Bitten erhielt …
»Tut mir leid«, sagte sie mit belegter Stimme. »Das ist völlig unmöglich. Bitte, ich kann das nicht. Ich will nicht …«
»Hören Sie, Dr. Barnes«, entgegnete die angenehme, sonore Stimme am anderen Ende der Leitung, »ich verstehe Ihre Gefühle vollkommen …«
»Das kann ich mir kaum vorstellen …«
»Keine Reporter, kein Presserummel. Das könnten wir Ihnen zusichern, Doktor. Aber hier geht es um ein kleines Mädchen – eine Siebenjährige, die aus einem geparkten Wagen verschwunden ist …«
Wieder stieg grelles Entsetzen in Leslie auf. Sie wollte nichts mehr davon hören! Doch vor ihrem inneren Auge formte sich das Bild eines kleinen Mädchens mit Ponyfrisur und Zahnlücken. Reine Einbildung, sagte sich Leslie. Du siehst bloß irgendeine Siebenjährige. Sie heißt Phyllis.
»Die Mutter sitzt hier in meinem Büro. Würden Sie kurz mit ihr sprechen? Wir werden Ihnen selbstverständlich den Flug und alle sonstigen Auslagen erstatten …«
»Es geht mir nicht um Geld«, erwiderte Leslie. »Es ist nur … ich kann das nicht. Ich habe Patienten. Ich kann nicht einfach verreisen …«
Plötzlich hatte sie jemand anderen in der Leitung. Eine Frau, die schluchzte und sie mit einem Wortschwall überschüttete.
»Dr. Barnes, hören Sie mich bitte an. Mein kleines Mädchen. Phyllis. Sie war erst … erst sieben Jahre alt. Sie ist einfach aus meinem Auto verschwunden, während ich ihren Geburtstagskuchen gekauft habe. Ich bin in den Laden gegangen, um den Kuchen zu holen, und als ich auf den Parkplatz zurückkam, war sie fort … Bitte, bitte kommen Sie her und suchen Sie meine Kleine. Ich gebe Ihnen tausend Dollar …« Die Frau schluckte hörbar.
»Ich nehme kein Geld«, entgegnete Leslie kühl.
»O Gott, ja, ja, das weiß ich … ich wollte Ihnen auch nicht zu nahe treten, ganz bestimmt nicht, aber meine Phyllis …« Ein lautes Schluchzen. »Sie ist noch so klein, und wenn ich an die vielen Verrückten denke, die sich auf den Straßen herumtreiben … Mein Gott, wenn meine Kleine so einer Sexbestie in die Hände gefallen ist …« Die Frau hielt plötzlich inne, und augenblicklich spürte Leslie, wie das Grauen durch das Telefon auf sie überschwappte. Rasch redete sie dagegen an, ohne zu wissen, was sie sagte, bis sie ihre eigenen Worte vernahm.
»Sie ist nicht tot. Es geht ihr gut. Sie ist mit einem Mann zusammen.« Aus weiter Ferne vernahm sie einen leisen Entsetzensschrei. »Sie ißt Geburtstagskuchen und redet ihn mit Daddy an.« Leslie schluckte und hörte sich hastig weitersprechen. »Sie ist bei ihrem Vater. Ihr ist nichts passiert. Er hat ihr ein … ein Paar rote Lackschuhe gekauft …«
Sie spürte, wie die Frau am anderen Ende der Leitung erstarrte. »Phyllis … hat mich angebettelt, ihr rote Lackschuhe zu kaufen, aber ich habe ihr gesagt, solche Schuhe wären unpraktisch. Aber daß sie bei ihrem Vater ist … Er hat das Sorgerecht ausdrücklich abgelehnt … er wollte das Mädchen nicht. Deshalb würde er sie bestimmt nicht
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