Die Hüter der Schatten
der Frau im Atelier gesehen. Die Eigentümer haben also bereits einige unerwartete Gewinne eingestrichen. Jetzt wollen sie das Haus einfach nur loswerden.«
Was der Mann sagte, gab Leslie zu denken. Manche Gebäude besaßen tatsächlich eine Ausstrahlung, mit der ein sensibler Mensch nur schwer zu leben vermochte. Bis jetzt schien das Haus sämtlichen Käufern nur Unglück gebracht zu haben. Wollte sie wirklich in einem Haus mit einer solchen Geschichte wohnen?
»Ist die alte Frau, die ehemalige Besitzerin, im Haus gestorben?«
Der Makler zögerte. Offensichtlich rückte er nicht gern mit der Sprache heraus. »Ich hab’s erraten, stimmt’s?« fragte Leslie, und der Mann nickte widerwillig.
»Hat man sie in ihrem Bett ermordet oder so was? Nun sagen Sie schon, sonst stelle ich mir noch viel schlimmere Dinge vor.«
»O nein, nichts dergleichen! Sie ist im Erdgeschoß von ihrem Klavierschemel gefallen, hat sich den Schädel gebrochen und hat ein paar Tage tot im Haus gelegen. Die Polizei hat eine Untersuchung angestellt und sogar einige ihrer Freunde verhört. Aber schließlich kam man zu der Ansicht, daß ihr Tod ein unglückseliger Unfall war. Eine so alte Frau sollte wirklich nicht allein leben«, fügte der Makler mit aufrichtiger Empörung hinzu.
Kein Wunder, daß die weit entfernt lebenden Eigentümer der Ansicht waren, ein Spukhaus geerbt zu haben! Ein mysteriöser Todesfall und ein Mordverdacht, ein zweiter Todesfall, ein Selbstmord, eine spurlos verschwundene Person – wahrscheinlich hatten die Besitzer das Gefühl, in einen Horrorfilm geraten zu sein. Amityville oder so etwas. Bei diesem Gedanken mußte Leslie lächeln. Sie würde von diesen Ängsten profitieren und den Vertrag unterschreiben, ehe die Erben zur Besinnung kamen und herausfanden, was ein solches Haus tatsächlich einbringen könnte.
»Ich werde noch heute eine Kaution hinterlegen«, erklärte sie. »Ich kaufe das Haus – vorbehaltlich der Überprüfung des Baugutachtens.« Denn Leslie war klar, daß die mündlichen Versicherungen eines Immobilienmaklers juristisch ebenso wenig verbindlich waren wie die Worte eines Gebrauchtwagenhändlers, und sie wollte sich schwarz auf weiß davon überzeugen, daß sich das Haus in einwandfreiem Zustand befand.
Noch einmal trat Leslie in das Zimmer im Erdgeschoß, das sie für sich bereits das »Musikzimmer« getauft hatte. Sie stellte sich Emilys Flügel und die Harfe in diesem Zimmer vor und fragte sich, ob das Klavier der alten Frau, die hier gestorben war, wohl in der Ecke des Zimmers gestanden hatte, in der sie es plötzlich vor dem geistigen Auge erblickte. Doch sie war weder erschrocken noch verängstigt; sie hatte sich mit ihrer übersinnlichen Begabung abgefunden – und was sie hier spürte, hatte nichts mit dem Entsetzen zu tun, das sie empfunden hatte, als sie Juanita García sah, die blutüberströmt und mißbraucht in einem Abwasserkanal lag. Statt dessen vernahm sie ein fernes Wispern, das vage an Musik erinnerte, und fühlte eine wohlwollende, gütige Präsenz. Die alte Frau war zu sterben bereit gewesen und hatte einen raschen Tod durch einen Gehirnschlag oder einen Herzanfall gefunden – an ihrem geliebten Instrument. Gewiß ein Ende, das eine Musikerin sich gewünscht hätte.
Trotzdem, dachte sich Leslie, während der Makler ihre Anzahlung quittierte, sollte man Emily besser nichts davon sagen, daß diese alte Frau – wie war noch ihr Name gewesen? Miss Graves? Nein, Margrave – genau dort von der Klavierbank gefallen und gestorben ist, wo Emily ihren Flügel aufstellen wird.
3
»Bei diesem Preis muß etwas faul an der Sache sein«, erklärte Emily. Leslie hatte ihr von der Reihe unglücklicher Zufälle berichtet, durch die der Verkauf des Hauses dreimal geplatzt war, doch Emily blieb skeptisch. »Das Ganze könnte eine kriminelle Verschwörung sein. Diese Verwandten in Nebraska, meine ich. Vielleicht verkaufen sie das Haus immer wieder und vergraulen die Leute anschließend. Sie streichen die Kaution und die Anzahlung ein und fangen wieder von vorn an. Auf diese Art kann man ein Vermögen verdienen.«
»Ich glaube, du hast deinen Beruf verfehlt, Emily. Würdest du Krimis schreiben, wärst du mit zwanzig Millionärin. Falls wirklich jemand auftaucht, um uns zu verjagen, kannst du den Fall ja aufklären«, fügte sie grinsend hinzu.
Dann setzte sie Emily ihre eigene Theorie auseinander: »Wahrscheinlich vermuten die Besitzer, daß in dem Haus so eine Art
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