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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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habe ich dich nur angeknurrt, weil mein Blutzuckerspiegel so schrecklich niedrig war. Es geht schon wieder. Ich muß nur bald was Gescheites futtern. Aber ein, zwei Stündchen halte ich mit den Bonbons schon durch.« Sie zerkaute noch eine Handvoll. »Komm, laß uns dein wunderbares Traumschloß anschauen.«
    Eigentlich solltest du dankbar sein, daß Emily ein so feines Gespür für ihren Körper und für gesunde Ernährung hat, überlegte Leslie. Erst heute morgen hatte sie am Beispiel Judy Attenburys gesehen, was geschehen konnte, wenn dieses Körpergefühl fehlte.
    »Ich finde dieses Zimmer herrlich, aber bist du dir auch sicher, daß du’s nicht für dich brauchst?« wollte Emily wissen. »Ich meine, es ist doch nicht fair, daß du mir den schönsten Raum im ganzen Haus überläßt.«
    »Mein Zimmer auf der anderen Seite der Diele ist völlig identisch mit dem hier. Außerdem ist es schalldicht.«
    »Oh, he, Les, soll ich nicht lieber das andere Zimmer nehmen? Dann brauchst du dir nicht den ganzen Tag anzuhören, wie ich übe …«
    »Nein. Ich höre dir gern zu. Und wenn ich den schalldichten Raum nehme, stört die Musik meine Patienten nicht. Ich will dort mein Büro einrichten.«
    »Dann laß uns dein Reich mal anschauen«, sagte Emily und durchquerte die Diele. Leslie folgte ihr nachdenklich. Wieder meinte sie, wie ein fernes Wispern Bachsche Musik zu hören. Reine Einbildung wahrscheinlich, weil sie wußte, daß hier eine Musikerin gelebt hatte und gestorben war. Daß Emily genau an der Stelle ohnmächtig geworden war, wo die alte Dame an ihrem Klavier den Tod gefunden hatte, konnte nur Zufall sein …
    Zornig schalt sie sich eine Idiotin. Viel wahrscheinlicher war, daß das Klavier der alten Miss Margrave in dem schallisolierten Zimmer gestanden hatte. Hinter Emily trat sie in die beiden miteinander verbundenen Räume, die sie als ihr Büro und ihr Arbeitszimmer auserkoren hatte. Emily stand am Erkerfenster und schaute hinaus in den strömenden Regen.
    »Es schüttet wieder wie aus Eimern.«
    »Ich wünschte, du hättest das Haus im Sonnenschein gesehen. Vom hinteren Fenster aus kann man die ganze Bucht überschauen, einschließlich der Golden-Gate-Brücke. Wir sind hier ziemlich hoch am Hang.«
    »Der Fußmarsch von der Straßenbahn bis hier herauf wird ein gutes Training für mich«, erklärte Emily. »Mein Lehrer meint, ich soll Treppen und Hügel steigen, um mich fit zu halten. Ein Pianist müsse durchtrainiert sein wie ein Hochleistungssportler, sagt er. Ich hatte schon überlegt, ob ich wieder Ballettstunden nehme.«
    Durch die Diele schlenderte sie ins Musikzimmer zurück.
    »Es ist wirklich wunderschön hier. Sagtest du nicht, die frühere Bewohnerin sei Musikerin gewesen? Ich glaube, deswegen wirkt das Haus so ruhig und friedlich. Ist dir schon mal aufgefallen, daß alte Musiker, Pianisten oder Dirigenten wie Heilige oder Engel aussehen? So unglaublich friedvoll. Im Fernsehen habe ich mal Menuhin spielen sehen. Weißt du, was ich gedacht habe? Er macht den Eindruck, als wäre er schon im Himmel. Oder die alten Fotos von Toscanini. Es heißt, er wäre ein Widerling gewesen und hätte das Orchester in Grund und Boden gebrüllt. Aber auf den Fotos sieht er so entrückt aus wie der heilige Franziskus.«
    »Dann bist du zufrieden mit deiner Wahl?«
    »Ich liebe das Zimmer jetzt schon«, antwortete Emily und blickte sich stolz und glücklich in ihrem Reich um. »Der Flügel soll hier stehen, und die Harfe da drüben. Und keine Stühle, sondern bloß Kissen auf dem Boden.«
    Leslie fand die Vorstellung scheußlich, aber Emily konnte sich ihr Musikzimmer natürlich einrichten, wie sie wollte. Sie mußte schließlich damit leben.
    »Ich sehe es schon vor mir – keine Möbel, nur riesige Kissen, den Flügel und die Harfe. Mommy hat gesagt, ich könnte den antiken japanischen Wandschirm haben, den Dad nach dem Krieg aus Tokio mitgebracht hat. Wir könnten irgendwann mal nach Sacramento fahren und ihn holen; er müßte auf den Dachgepäckträger passen. Laß uns die Küche anschauen.« Emily hüpfte durch den Flur davon. »Oh, wie hübsch und modern. Das Haus ist so alt, daß ich schon Angst hatte, die Leitungen und Rohre wären aus viktorianischer Zeit.«
    »Einer der Leute, die das Haus gekauft und dann wieder aufgegeben haben, hat die Küche renoviert.«
    »Ich kann mir gar nicht vorstellen, weshalb jemand aus diesem Haus auszieht.« Emily öffnete die Hintertür. Das Vordach schützte sie vor dem Regen.

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