Die Hüter der Schatten
»Meine Güte, Les, ein richtiger Garten!« Der frische Duft feuchter grüner Blätter, Kräuter und Pflanzen drang in die Küche.
Mit geschlossenen Augen sog Emily begeistert die Luft ein. »Ich rieche Rosmarin, Minze, Salbei … das ist ja ein Kräutergarten, Les! Frische Kräuter! Pfefferminztee ist für alles gut, besonders bei Magenproblemen. Und frisches Basilikum, Cilantro und Thymian …«
Petersilie, Suppenkraut wächst in unserem Garten … , summte Leslie, und Emily fiel kurz in den Refrain ein. Sie war keine ausgebildete Sängerin, doch ihre Stimme war rein und klar.
»Stell dir vor, du kannst mit frischen Kräutern kochen, Leslie. Wir könnten Schnittlauch und Schalotten anpflanzen, und Knoblauch für Pesto – schmeckt herrlich zu Spaghetti! Kamille, Goldlack – die alte Frau, die hier gelebt hat, muß eine richtige Kräuterexpertin gewesen sein! Wohin führt eigentlich die Tür da drüben?«
»Früher war das eine Garage, die zu einem Apartment mit eigenem Eingang umgebaut und als Atelier benutzt wurde …«
Emily zog sich den Pullover über den Kopf und rannte los. Leslie folgte ihr mit dem Schlüssel. Der Regen ließ nach, und von der nassen Erde stieg ein süßes, durchdringendes Aroma auf, das halbvergessene Erinnerungen wachrief. Während Leslie sich bemühte, das Schlüsselloch zu finden, überkam sie plötzlich ein überwältigendes Gefühl des déjà-vu. Sie hatte schon einmal vor dieser Tür gestanden und diesen Duft in sich aufgenommen – und plötzlich war er einem scharfen, Übelkeit erregenden Gestank gewichen.
Mit einem Mal zitterte sie vor Zorn. Wie können sie es wagen, meinem wunderschönen Haus so etwas anzutun, das ich so liebe?
»Was ist mit dir, Les? Ich wette, du hast auch nicht richtig gefrühstückt. Komm, gib mir den Schlüssel und lutsch ein paar Pfefferminzbonbons«, befahl Emily und schloß auf. Sie trat als erste ein, während Leslie sich die Bonbons in den Mund steckte.
»Igitt, hier drin stinkt’s nach Verwesung. Oder die Abflüsse sind verstopft«, meinte Emily und schnupperte mißbilligend.
»Ich rieche nur Minze«, murmelte Leslie und sah, daß jemand die klebrige Masse von der Töpferscheibe entfernt hatte. Als sie in das kleine Badezimmer trat, fand sie es einigermaßen sauber vor. Trotzdem betätigte sie die Spülung.
Emily schnüffelte immer noch im Zimmer herum. »Draußen habe ich eine weiße Katze gesehen. Vielleicht war sie hier drin und hat geschissen. Katzenkacke stinkt schlimmer als ein ganzer Schweinestall. Deswegen tun die Hersteller auch so viel Deo ins Katzenstreu. Widerlich.« Sie trat in den Nieselregen hinaus. »Wegen der Garage müssen wir was unternehmen, Les.«
»Als ich allein hier war, habe ich auch eine Katze gesehen. Vielleicht ist sie ja tatsächlich daran schuld.« Hier im Freien duftete der Jasmin, dessen Geruch Leslie drinnen widerlich süß erschienen war, wieder zart und frisch. »Komm mit nach oben und sieh dir die Schlafzimmer an. Wenn du willst, kannst du das Zimmer mit Blick aufs Golden Gate haben. Schließlich schaust du vom Musikzimmer aus nur in den Garten.«
»Im Moment sehe ich sowieso nur Regen«, meinte Emily und blickte sich um. »Außerdem zieht noch Nebel auf. Nimm du doch das Zimmer mit der Aussicht auf die Bucht. Mir gefällt der Blick auf den Garten mit seinen Kräuterdüften. Außerdem läge dann mein Zimmer über dem Musikraum. Dann würde irgendwie mir eine Hälfte des Hauses gehören, und die andere dir.« Sie trat als erste in das Schlafzimmer auf der Gartenseite. »Atme mal tief durch! Wenn das Fenster offensteht, so wie jetzt, bekommst du die ganzen Düfte mit.«
Erschrocken und ärgerlich betrachtete Leslie die weit offenen Fensterflügel.
»Verdammt! Der Makler hat versprochen, den Riegel zu reparieren.« Leslie ging zum Fenster und schloß es. »Wenn diese verflixten Bengel schon wieder hier herumgeklettert sind …«
»Welche Bengel? Ich sehe keine Fußabdrücke.« Emily war zu ihr getreten. »Und der Aufstieg ist ‘ne richtige Klettertour. Das Spaliergitter ist nicht besonders stabil. Man müßte schon Flügel besitzen oder Zirkusakrobat sein, um hier raufzukommen. Ich könnte das nicht.«
Leslie war anderer Meinung. Ein gelenkiger Zehnjähriger käme hier herauf, und der Riegel wirkte nicht so stabil, als daß der Wind nicht das Fenster aufgeweht haben konnte. Am besten besorgte sie sich eine ordentliche Verriegelung.
»Bist du sicher, daß du dieses Zimmer möchtest, Em? Das andere hat
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