Die Hüter der Schatten
gegeben hatte.
Frodos gute Laune war verflogen, und er blickte ernst und zornig drein.
»Ich wünschte, Colin wäre dagewesen, um ihn rauszuwerfen. Ehrlich, ich kann den Kerl nicht ausstehen. Er zieht die ganze heidnische Gemeinde in den Schmutz. Schon die Vorstellung, diesen … diesen Bastard auf eine Stufe mit dir zu stellen, Rainbow, oder mit Earthlight, Claire, Colin, den Carmodys oder Alison Margrave …«
»Alison hat mit ihm zusammengearbeitet«, wandte Rainbow ein. »Also muß doch irgend etwas Gutes in Simon stecken.«
Alison Margrave? Du mußt den Namen falsch verstanden haben, dachte Leslie. Immer noch stand sie mit dem Kräuterbuch in der Hand vor der Theke, und erst jetzt bemerkte der junge Mann sie. »Oh, entschuldigen Sie, Ma’am, ich wollte Sie nicht warten lassen.«
Leslie hatte ihn eigentlich fragen wollen, ob er und die junge Frau von derselben Miss Margrave sprachen, deren Haus sie gekauft hatte. Doch Frodos Tonfall ließ Leslie erkennen, daß sie für ihn zur älteren Generation gehörte. »Das macht sieben Dollar fünfzig. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Ma’am?«
»Nein, vielen Dank.« Wäre diese Claire im Laden gewesen, hätte Leslie sie vielleicht nach Poltergeistern ausgefragt. Oder fielen Poltergeister unter Schwarze Magie? Lächelnd verabschiedete sie sich von Rainbow.
»Ich hoffe, Sie fühlen sich in dieser Gegend wohl«, sagte die junge Frau höflich. »Und das Kräuterbuch wird Ihrer Schwester bestimmt gefallen.« Über Rainbows Schulter winkte Timmie ihr nach wie ein kleiner pausbäckiger Engel.
Leslie verließ den Laden und fühlte sich plötzlich alt, als wäre für sie die Uhr weitergelaufen, während diese jungen Leute in den Sechzigern verharrt waren. Nein, sagte sie sich dann, das ist ungerecht. Für Leslie waren die Sechziger eine ferne Erinnerung; diese jungen Leute versuchten lediglich, ihre eigene Version dieser Zeit voller Ideale zu leben.
Leslie beschloß, an einem der Tage, wenn Claire im Laden war, wiederzukommen und in Ruhe zu stöbern.
Aber bis dahin brauche ich mir wegen der Poltergeister vielleicht gar keine Sorgen mehr zu machen …
Als sie ihre Schwester vor dem Konservatorium absetzte, zögerte Emily, bevor sie ausstieg.
»Fährst du direkt zurück nach Berkeley?«
»Noch nicht. Ich habe unterwegs ein Bandmaß gekauft und wollte noch einmal zum Haus, um die Fenster auszumessen – ich muß wissen, ob unsere Vorhänge und Jalousien passen oder ob wir neue brauchen. Du könntest nachher vorbeikommen und mit mir nach Hause fahren. Ich muß allerdings spätestens um vier Uhr los …« Um fünf kam Eileen Grantson.
Emily schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, das Konzert heute abend. Ich komme wahrscheinlich spät nach Hause.«
Leslie wollte sich nicht wie eine Glucke aufführen; schließlich war Emily praktisch erwachsen. Doch sich gestand sie ein, daß sie froh wäre, würden sie diesseits der Bucht leben. Daß Emily die lange Strecke allein und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegte, behagte Leslie ganz und gar nicht. Besonders abends war ihr unwohl dabei.
Sie fuhr zum Haus zurück. Wieder fiel trüber, grauer Nieselregen. Auf der Straße stand ein Lieferwagen und versperrte ihre Einfahrt … Wie schnell sie Besitz von allem ergriffen hatte: ihr Haus, ihre Einfahrt! Leslie parkte den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Als sie zu den Erkerfenstern ging, sah sie einen großen, breitschultrigen Mann mit graumeliertem Haar, der sich vom Haus entfernte. Zuerst hielt Leslie ihn für den Immobilienmakler; dann aber sah sie, daß dieser Mann ihr völlig fremd war. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Dieses Profil hätte sie bestimmt nicht vergessen: die Adlernase, die buschigen ergrauten Augenbrauen und die Art, wie er den Arm abwinkelte, den er in einer – nein, es sah nur so aus, als würde er den Arm in einer Schlinge tragen. Eine lange Narbe verlief über eine Wange und führte bis hinunter auf den Hals, und der Mann trug eine Augenklappe. Was hatte er auf ihrer Einfahrt zu suchen? Leslie war sicher, daß der Fremde aus dem Garten gekommen war. Was hatte er dort angestellt?
Leslie zögerte. Der Mann war groß und kräftig, und irgend etwas Bedrohliches ging von ihm aus. Bis sie zu der Überzeugung gelangt war, daß sie es mit einem harmlosen Stromableser oder ähnlichem zu tun hatte, war der Fremde bereits in einen großen grauen Wagen gestiegen, der am Bordstein parkte. Als der Mann um die Ecke fuhr und einen Moment
Weitere Kostenlose Bücher