Die Hüter der Schatten
hielt, um den Gegenverkehr abzuwarten, schaute er sich um. Leslie spürte, daß er den Blick auf sie richtete, und für einen winzigen Moment starrten sie einander an; dann glitt der Wagen davon.
Leslie holte tief Luft und ging um das Haus herum in den Garten. Im Gras entdeckte sie Fußspuren, und als sie zum Fenster des Zimmers hinaufblickte, das einmal Emilys Schlafzimmer werden sollte, sah sie, daß das Fenster weit offenstand.
Ich komme mir vor wie einer von Schneewittchens sieben Zwergen, dachte sie. Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen? Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Leslie nahm das wacklige Spalier mit den Kletterrosen in Augenschein. Selbst mit Hilfe der Regenrinne konnte sich hier kein durchschnittlich großer Mensch nach oben hangeln, nicht einmal ein Akrobat. Und der Fremde war mindestens eins achtzig groß gewesen.
Klopfenden Herzens schloß Leslie die Küchentür auf und rannte nach oben. Die Tür war verschlossen gewesen, doch auf dem Teppich waren feuchte Fußspuren zu sehen, und der Hauch irgendeines Geruchs lag in der Luft. Weihrauch? Oder hatte jemand Kräuter verbrannt? Das Fenster stand sperrangelweit offen. Leslie knallte es zu und verriegelte es. Wer hat in meinem Bettchen geschlafen?
Leslie hatte keine Ahnung, was sie plötzlich bewog, die Treppe hinunter und durch den Garten zur Garage zu rennen. Sie trat ein. Drinnen war es dunkel, und der Gestank traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie blinzelte. Einen Augenblick lang sah sie den Mann, der eben in das graue Auto gestiegen war, den hochgewachsenen Fremden mit der Augenklappe und dem ausgeprägten Profil. Die Hände wie zu einer Beschwörung erhoben, stand er in der Mitte des Zimmers. Leslie blinzelte noch einmal.
»Wer sind Sie? Wie sind Sie hier reingekommen?« rief sie. Doch ehe ihre Worte verhallt waren, zerfloß die Gestalt.
Am rückwärtigen Fenster des Ateliers waren zwei Oberlichter zerbrochen. Nicht so, als wäre jemand auf diesem Weg nach draußen geklettert – dafür waren die Fenster zu klein und befanden sich zu hoch an der Wand –, sondern als hätte jemand aus Zorn oder blinder Zerstörungswut die Faust in die Scheiben geschmettert.
Vor dem inneren Auge ließ Leslie noch einmal das Bild des Eindringlings erstehen. Nein, weder an seinen Händen noch in seinem Gesicht waren Blut oder Schnittwunden zu sehen gewesen, nur diese weiße, lang verheilte Narbe an Wange und Hals.
Leslie hatte jegliche Lust verloren, die Fenster auszumessen. Sie würde den Immobilienmakler anrufen und ihm mitteilen, daß offenbar jemand einen Schlüssel besaß und daß sie einen Mann beim Verlassen des Hauses beobachtet hatte. Bevor sie einzog, mußte der Makler sämtliche Schlösser auswechseln lassen.
Sie schloß die Tür zum Atelier ab und ging zum Wagen.
5
Eileen kam fast zehn Minuten zu spät. Sie trug ein Kapuzensweatshirt, in das sie den Kopf wie eine Schildkröte zurückgezogen hatte. Schlechtgelaunt trat sie ins Büro und ließ sich schnaubend auf ihrem Stuhl nieder.
»Bist du erkältet, Eileen?«
Schnief. »Kann sein.«
»Da steht eine Schachtel Papiertücher.«
Schweigend nahm Eileen eine Handvoll und putzte sich die Nase.
Kein Wort. Schnief. Für gewöhnlich ließ Leslie ihre Patienten, besonders die Jugendlichen, selbst entscheiden, ob und worüber sie redeten. Schließlich sprach sie Eileen in festem Tonfall an. »Hattest du noch einmal Probleme mit zerbrochenem Geschirr?«
Ich muß wissen, ob sie der Poltergeist ist – sonst bleibe nämlich nur noch ich als Kandidat.
»Ja«, antwortete Eileen endlich. »Vor kurzem hab’ ich abends ein halbes Service zerschlagen. Mein Vater« – aus ihrem Mund klang das Wort gehässig – »hat gesagt, er wär’s jetzt leid, und er würde mir das Geld für die Teller vom Taschengeld abziehen. Er hat mir nur drei Dollar für die ganze Woche gegeben. Drei lausige Bucks! Als ich ihm sagte, dafür könnte ich mir nicht mal was zu essen kaufen, hat er gemeint, dann müßte ich mir eben Brote schmieren. Ich hab’ mir ein Sandwich mit Roastbeef gemacht, und die alte Mattison – das ist die bescheuerte Haushälterin – hat mich angeschrien, weil sie die Reste für ihr Abendessen wollte. Also habe ich’s ihnen gezeigt …« Eileens Augen glitzerten verschlagen. »Dreimal habe ich Mom angerufen – Ferngespräche nach Texas. Mein Alter hat mir den Hörer aus der Hand gerissen und Mom angebrüllt, sie soll meine Anrufe gefälligst selbst bezahlen, und hat
Weitere Kostenlose Bücher