Die Hüter der Schatten
Ächzen – Schritte! Da kam jemand! Sie umklammerte das Holz.
»Emily?«
Nichts.
Leslie packte den Teigroller so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Wieder hörte sie ihren eigenen Atem, den einzigen Laut im ganzen Haus. Der Korb, den sie auf den Treppenabsatz gestellt hatte, war umgefallen. Das Handtuch lag auf halber Höhe der Stufen.
Vor ihrem inneren Auge sah sie ein Glas Wein, das in Joels verblüfftes Gesicht flog. Schon wieder ihr Poltergeist? Sehr wahrscheinlich. Sie hob den Korb und das nasse Tuch auf.
Wieder Schritte. Kamen sie von drinnen oder draußen? Als der Türknopf sich drehte, hielt Leslie den Atem an.
»Emily?« fragte sie kaum hörbar.
»Wer sollte sonst zu dieser nächtlichen Stunde hier aufkreuzen? Dein Märchenprinz?« erwiderte Emily und schloß sorgfältig die Tür hinter sich ab. »Wieso bist du noch auf, Leslie? Hast du etwa auf mich gewartet?« Ihre kleine Schwester wirkte müde und verärgert. Ohne sich zu Leslie umzudrehen, zog sie ihre Pumps aus und warf sie in den Korb am Fuß der Treppe. »Autsch! Meine Füße bringen mich noch um. Ich werde nie begreifen, warum Platzanweiserinnen hochhackige Schuhe tragen müssen. Die Männer würden streiken, wenn man von ihnen verlangte, in solchen Dingern zu arbeiten!«
»Tja, dann sollten die Frauen sich vielleicht dagegen zusammenschließen«, meinte Leslie auf dem Weg nach unten. Emily starrte auf das Nudelholz in ihrer Hand.
»Was ist los, Les?«
»Nichts. Ich dachte, ich hätte Schritte im Haus gehört, aber das war wohl doch jemand, der auf der Straße vorüberging.« Sie wandte sich ab, damit Emily ihr bleiches Gesicht nicht sah, und brachte das Holz zurück in die Küche. Emily folgte ihr.
»Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, Leslie. Wie es aussieht, bist du ziemlich mit den Nerven runter. Du solltest wirklich Baldrian nehmen. Ein rein pflanzliches Beruhigungsmittel, vollkommen unschädlich. Ich habe ein paar Kapseln.«
Leslie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es geht schon wieder.«
»Oh, schön, das Wasser ist noch heiß.« Emily goß es über ihren Teebeutel und stopfte sich einen Keks in den Mund. »Dann koche ich dir wenigstens eine Tasse Kamillentee. Schmeckt gut und beruhigt.« Das Mädchen wartete nicht auf Leslies Antwort. Aus einem Behälter auf der Küchenanrichte nahm sie einen zweiten Teebeutel und gab Wasser in eine weitere Tasse, die sie Leslie reichte. Ein Duft wie nach Heu stieg von dem Tee auf. Vorsichtig nippte Leslie daran und fand den Geschmack überraschend angenehm.
»Kamille, sagst du?« Rainbow, die junge Frau aus dem Buchladen, hatte diesen Tee ihrem Baby gegeben. »Schmeckt gut. Danke, Emily.«
»Was ist denn nun passiert?«
Leslie berichtete ihrer Schwester von den umgestürzten Körben und den Schritten, die sie auf der Treppe gehört hatte. »So was habe ich noch nie erlebt«, sagte sie. »Ich konnte fast fühlen, wie die Stufen vibrierten. Und eine Erklärung für die umgefallenen Körbe habe ich auch nicht.«
Emily zuckte die Achseln. »Vielleicht hatten wir ein winzig kleines Erdbeben. Wir leben schließlich in Kalifornien. Wenn der Korb nahe am Rand der Treppenstufe stand, hätte jeder Luftzug ihn umgeworfen.« Gähnend spülte sie ihre Tasse aus und legte sie in den Geschirrspüler. »Und wie fühlst du dich jetzt? Noch so nervös?«
Leslie stand auf und stellte ihren Teebecher in die Spüle. »Geht schon wieder«, sagte sie und hatte das Gefühl, sich dumm benommen zu haben.
Die Schwestern verließen die Küche, als das Telefon klingelte. Gebieterisch schrillte es durch das stille Haus.
»Um diese Zeit? Mein Gott, hoffentlich ist nichts mit Mommy!«
Emily stürzte in die Küche zurück und rannte Leslie dabei fast um. Hektisch nahm sie den Hörer ab.
»Hallo? Hallo? Verdammt noch mal, ist da jemand?« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. Ihr Gesicht war kalkweiß.
»Schon wieder dieser Spinner! Les, wir sollten uns eine Geheimnummer geben lassen. Ich dachte schon, Mommy hätte einen Herzanfall oder so etwas …« Sie schluckte heftig, und Leslie trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Das geht nicht, Em. Ich muß für meine Patienten erreichbar sein. Ich könnte die Sache bei der Telefongesellschaft melden, aber viel können die nicht unternehmen. Der anonyme Anrufer hat schließlich keine Drohungen oder Obszönitäten von sich gegeben.«
Dann fiel ihr wieder die kalte Stimme ein. Das wird dir noch leid tun, du Schlampe, hatte der Fremde
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