Die Hüter der Schatten
Gedanke, was für ein Verbrechen es war, daß man heutzutage Menschen bezahlen mußte, damit sie einem zuhörten. Leonard Hay suchte Leslie seit vier Monaten regelmäßig auf, und seitdem erklärte er abwechselnd, er sei stolz darauf, homosexuell zu sein, um beim nächsten Mal darüber zu klagen, daß er sich schuldig fühle, weil er seine Frau verlassen wolle. Leonard hatte sie aus falschen Beweggründen geheiratet – in einem letzten Versuch, sich seine Männlichkeit zu beweisen und Zuneigung zu finden.
Leslie hörte sich seine immer gleichen Klagen an, doch als Psychologin konnte sie nur wenig für Leonard tun, außer ihm mitfühlend ihr Ohr zu leihen. Zumindest ein Teil seiner Probleme war sozialer Art und rührte daher, daß ein Mann in seiner Lage sich nicht einfach einem alten Schulkameraden oder einem wohlmeinenden Verwandten anvertrauen konnte. Vor lauter Angst, selbst in den Ruch der Homosexualität zu kommen, hätte niemand gewagt, sich ernsthaft mit Leonards Problemen auseinanderzusetzen.
»Aus Ihren Worten höre ich heraus, daß Sie einfach zu keiner Entscheidung gelangen können«, erklärte Leslie – so wie mindestens einmal während jeder bisherigen Sitzung.
»So ist es, Leslie. Sie treffen genau den Punkt. Jeder Entschluß, den ich treffe, muß zwangsläufig irgendwie falsch sein.«
»Und wenn Sie gar nichts tun, ist das auch nicht richtig«, fügte Leslie hinzu, obwohl sie wußte, daß Leonard noch nicht bereit war, diese Worte zu hören. Wenn er einer Entscheidung aus dem Weg ging, konnte ihm wenigstens niemand etwas vorwerfen. Die Unfähigkeit, für seine Entschlüsse einzustehen, hatte Leonard in Leslies Praxis geführt. Sie konnte ihm höchstens dabei helfen, endlich einzusehen, daß er auch für seine Tatenlosigkeit die Verantwortung übernehmen mußte.
»Was könnte denn passieren, würden Sie eine falsche Entscheidung treffen?« fragte Leslie, löste damit aber nur eine weitere Sturzflut von Klagen aus: Leonard hatte schreckliche Angst davor, daß alles falsch sein könnte, was er tat; wenn er gar nichts unternähme, erklärte er, richte er wenigstens keinen Schaden an, während eine falsche Entscheidung sein ganzes Leben zerstören könne.
Der arme Kerl ist bereits auf dem besten Weg, sein Leben zu ruinieren, dachte Leslie. Aus tiefstem Herzen verfluchte sie seine frühkindliche Sozialisation, in deren Verlauf Leonard gelernt hatte, niemals ein Risiko einzugehen. Aber solange er nicht erkannte, daß er sein Chaos selbst schuf, konnte Leslie ihm das nicht begreiflich machen.
Und selbst wenn er soweit gelangte, löste das noch nicht Leonards Konflikt mit der Gesellschaft, die jeden Menschen ordentlich in eine kleine Schublade steckte: Macho oder Schwächling, hetero- oder homosexuell, falsch oder richtig. Leslie konnte ihren Patienten helfen, eigene Entscheidungen zu treffen, konnte aber nicht die Umwelt verändern, die darauf bestand, daß jeder sich in einer dieser Schubladen einrichtete.
Als sie Leonard zur Tür brachte und hinter ihm abschloß, hatte sie das Gefühl, ihr Double-Bind mit Joel stehe vielleicht symbolisch für ihre zwiespältige Beziehung zu ihrem Beruf.
Warum kann ich nichts für diese Menschen tun, außer ihnen zuzuhören? Leslie ging in die Küche, um ihr Abendessen zuzubereiten. Als sie schließlich am Tisch saß und in Rührei und Tomatenscheiben stocherte, setzte sie ihre düsteren Überlegungen fort. Sie hatte das Gefühl, beruflich in einer Sackgasse zu stecken.
Nun ja, zumindest lieh sie ihren Patienten mitfühlend ihr Ohr, ohne zu nörgeln, sie zu kritisieren oder zu Entscheidungen zu drängen. Und sie bewahrte die Leute davor, auf den Behandlungsliegen von Psychiatern zu landen, die ihre Patienten fünf bis fünfzehn Jahre lang ihre unterdrückten infantilen Sexualimpulse erforschen ließen, ohne die Symptome zu untersuchen, die diese Menschen zum Therapeuten geführt hatten.
Das Telefon klingelte, doch als Leslie abnahm, war niemand am Apparat. Hatte jemand sich verwählt? Kaum hatte Leslie sich diese Frage gestellt, klingelte es wieder, und diesmal vernahm sie das schwere, nicht-menschliche Atmen. Leslie knallte den Hörer auf die Gabel. Als der Apparat von neuem schrillte, ließ sie ihn klingeln. Sie mochte das Telefon nicht noch einmal anrühren. Es läutete zwölfmal, bis endlich Ruhe war.
Aber als es kurz vor Mitternacht wieder klingelte, nahm Leslie seufzend ab. Wenn Emily abends allein unterwegs war, konnte sie das Telefon nicht einfach
Weitere Kostenlose Bücher