Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
Vom Netzwerk:
Joel durchs Zimmer. »Aber es zieht doch. Dabei ist die Tür zur Diele geschlossen.«
    Er steht genau an der Stelle, wo Emily am ersten Tag ohnmächtig wurde, dachte Leslie. Aber der Gedanke war lächerlich. Emily hatte zu wenig gefrühstückt und war vor Hunger umgekippt. Leslie trat neben Joel. Ja, ihr kam es auch so vor, als wehe hier ein kalter Windhauch. Doch als sie ein Stück zur Seite trat, spürte sie ihn nicht mehr.
    »Irgendwo zieht’s«, meinte der junge Anwalt. »Laß uns mal im oberen Stockwerk nachschauen.«
    Auf der Treppe wehte ihnen wieder ein kalter Hauch entgegen. »Wahrscheinlich steht irgendwo ein Fenster offen«, meinte Joel und trat in den Raum, den die Schwestern bereits zu Emilys Schlafzimmer auserkoren hatten. »Aha. Da haben wir’s ja!«
    Stirnrunzelnd betrachtete Leslie das Fenster, das schon wieder sperrangelweit geöffnet war. »Der Immobilienmakler hat etwas von Kindern erzählt, die hier manchmal hereinkommen«, meinte sie. »Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, daß ein Kind so hoch klettern könnte.«
    Joel trat neben sie. »Kinder kommen fast überall hin. Bobby erzählt mir manchmal Geschichten, da würde dir die Haare zu Berge stehen. Hier bräuchte man aber wohl eine Leiter. Ich wette, irgendwo da unten könntest du die Abdrücke finden. Aber nach dem heftigen Regen dürften sie im Schlamm kaum mehr zu sehen sein. Na, wenn du erst hier wohnst und etwas hörst, kannst du ja die Polizei rufen und die kleinen Biester auf frischer Tat schnappen lassen.«
    So sehr Leslie auch die Augen anstrengte, sie konnte keine Abdrücke im weichen Boden entdecken – weder Fuß- noch Leiterspuren irgendwelcher Eindringlinge. »Vielleicht ist das Haus schief gebaut, und deswegen schwingen die Fenster immer wieder auf«, meinte sie, und plötzlich durchfuhr sie der Gedanke: Oder es ist ähnlich wie bei einer Türklingel, die läutet, obwohl sie abgeklemmt ist. Ärgerlich schob sie die Vorstellung beiseite.
    Joel überprüfte zum wiederholten Mal den Riegel. »Jetzt ist er jedenfalls zu«, sagte er. »Soll das dein Zimmer werden?«
    »Nein. Emily möchte den Blick auf den Kräutergarten«, erwiderte Leslie und führte ihn durch den Flur in ihr zukünftiges Schlafzimmer mit der altmodischen Tapete und den alten Stucktürrahmen. Im Geiste hatte sie bereits die Möbel darin aufgestellt.
    »Das ist wunderschön«, sagte Joel und zog sie ans Fenster, von wo man auf Himmel und Meer blicken konnte, genau wie aus dem Büro im Erdgeschoß. »Nur eines stimmt nicht.«
    »Und was, Schatz?«
    Er legte den Arm um Leslie und zog sie näher zu sich heran. »Das hier sollte unser gemeinsames Haus sein, in das wir nach unserer Hochzeit ziehen.«
    »Weshalb sagst du dann, an dem Haus stimmt irgend etwas nicht? Gibt es einen Grund, warum es eines Tages nicht unser gemeinsames Heim werden könnte?« fragte sie, obwohl sie wußte, daß sie sich längst nicht mehr sicher war, ob sie Joel jemals heiraten würde.
    Joels Miene verschloß sich. »Nein, eigentlich gibt es keinen besonderen Grund«, erklärte er nach kurzem Nachdenken. »Aber wie ich dir schon sagte, bin ich … altmodisch. Ich habe das Gefühl, ich müßte für das Haus sorgen, in dem wir nach unserer Hochzeit wohnen. Na ja, wir werden uns was einfallen lassen. Das müssen wir wohl.«
    Leslie wußte, für Joels Verhältnisse war das eine vollständige Kapitulation. Der Augenblick der Nähe zog sich in die Länge, intimer als ein Kuß. Dann rückte er ein wenig von ihr ab. »Ich hab’ unten einen Schraubenzieher gesehen. Ich werde mir einmal den Fensterriegel in Emilys Zimmer anschauen. Wir könnten versuchen, ihn von innen zu richten.«
    Das Telefon klingelte. Erschrocken fuhr Leslie zusammen, bevor ihr einfiel, daß sie sich in ihrem neuen Haus aufhielt und daß es unmöglich der anonyme Anrufer sein konnte, der ihr das Leben zur Hölle machte. Es kam häufiger vor, daß in einem leerstehenden Haus die Telefonanschlüsse noch funktionierten. Als sie in das Haus eingezogen waren, wo sie noch zur Miete wohnten, war das auch der Fall gewesen. Ach ja, der Nebenapparat stand in dem kleinen Ankleidezimmer.
    Leslie nahm den Hörer ab. Cremefarben, schmal und modern, wie sie bemerkte. »Hallo?«
    »Alison?« fragte eine unbekannte Stimme. »Bist du das, Alison?«
    Alison. Schon wieder.
    »Wenn Sie Alison Margrave sprechen wollen«, sagte Leslie scharf, »muß ich Ihnen leider mitteilen, daß die Dame seit einem Jahr tot ist.« Sie zögerte kurz und fügte

Weitere Kostenlose Bücher