Die Hüter der Schatten
tust du nicht. Du wirst dich an den Flügel setzen und spielen, so gut du kannst. Du schaffst das schon.«
»Was, zum Teufel, verstehst du denn davon?« knurrte Emily.
»Nichts. Aber ich kenne dich, Emmie.«
»O Gott, halt an, Les. Ich glaube, mir wird schlecht …«
»Ich kann nicht mitten auf der Brücke rechts ranfahren. Wenn es unbedingt sein muß, kurble das Fenster herunter.« Leslie hatte mit Absicht ziemlich barsch gesprochen. Emily öffnete das Fenster, erbrach sich aber nicht, sondern lehnte sich zurück und ließ die eisige, nebelfeuchte Meeresbrise in den Wagen wehen.
Die Halle war kalt und kahl. An der Vorderseite stand ein Tisch mit vier Stühlen. »Da sitzt die Jury«, flüsterte Emily. »Das ist Dr. Agrowsky.« Mit einem verhaltenen Kopfnicken wies sie auf einen untersetzten Mann mit krummen Schultern, dessen Kahlkopf wie eine Billardkugel glänzte. Zuerst wirkte der Mann auf Leslie bedrohlich, doch dann sah sie die Lachfalten um Mund und Augen. Agrowsky nickte Emily zu – aufmunternd, wie Leslie meinte –, aber sie war sich nicht einmal sicher, ob ihre Schwester die Geste überhaupt wahrgenommen hatte. Der weltbekannte Musiklehrer durchquerte den Raum und nahm auf einem der vier Stühle Platz.
Nach und nach strömten Studenten in den Saal. Leslie hatte nicht gewußt, daß Vorspieltermine öffentlich waren, doch es erschien ihr durchaus sinnvoll. Schon ein junger Musiker mußte lernen, vor Publikum aufzutreten.
Aus dem Hintergrund näherte sich ein hochgewachsener Mann, dessen Erscheinen leises Gemurmel unter den Zuhörern hervorrief. Leslie vermutete, daß dies der berühmte Gastdozent sein mußte, und drehte sich um. Mit einem Gefühl schicksalhafter Vorbestimmung erblickte sie die Augenklappe, den Arm in der Schlinge, das narbendurchzogene Gesicht und das Profil mit der Adlernase. Zuletzt hatte sie diesen Mann gesehen, als er in ihrer Einfahrt in einen grauen Wagen gestiegen war. Nein, falsch … das letzte Mal war diese Erscheinung in ihrem Haus gewesen, als sie geglaubt hatte, den Mann in der Mitte des feuchten Atelierraums stehen zu sehen.
Als hätte er Leslies Gedanken gelesen, verharrte Simon Anstey einen Moment und blickte sie aus seinem einen blauen Auge durchdringend an, genau wie kürzlich vor ihrem Haus. Leslie umklammerte die Stuhllehnen.
Dann nickte Anstey ihr knapp zu, schritt den Gang hinunter und nahm den letzten der leeren Stühle am Jurytisch ein.
Ein Unbekannter trat vor das Publikum.
»Guten Morgen«, begann er. »Wenn die Kandidaten jetzt bitte an den Tisch treten und eine Nummer aus dem Korb ziehen würden …«
»Wünsch mir Glück«, flüsterte Emily und stand auf. Eine Minute später kehrte sie zurück. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand und wirkte wie betäubt. »Nummer fünf. Ungefähr das Schlimmste, was mir passieren konnte.«
»Betrachte es als Herausforderung«, wisperte Leslie zurück.
»Nummer eins. Bitte kommen Sie auf die Bühne und nennen Sie Ihren Namen. Anschließend teilen wir Ihnen mit, welchen Satz Sie spielen werden.«
Eine kräftig gebaute Frau in den Dreißigern, gekleidet in einen engen weißen Rock und einen Pullover, stapfte aggressiv zur Mitte der Bühne.
»Joan Paddington.«
»Lassen Sie uns bitte das Adagio hören, Mrs. Paddington.«
»Fettes Schwein«, kommentierte Emily im Flüsterton. Aber das fette Schwein spielte wie ein Engel. Leslie lauschte und fand allmählich Gefallen an dem Konzert. Ihre Schwester dagegen umklammerte ein Papiertaschentuch und riß es langsam in Fetzen.
Ein Kandidat nach dem anderen trat zum Vorspielen an. Als die Nummer fünf aufgerufen wurde, befeuchtete Emily ihre Lippen, nahm ihre Noten und ging nach vorn.
»Emily Barnes.«
»Wir hätten gern den ersten Satz gehört, Miss Barnes«, forderte der hochgewachsene, narbenbedeckte Simon Anstey sie auf.
Emily knüllte ihr Taschentuch zusammen, wischte sich verstohlen die Hände am Rock ab und setzte sich vor das Klavier.
Zum hundertsten oder tausendsten Mal in den letzten paar Tagen hörte Leslie die acht Eröffnungsakkorde, die piano begannen, sich zu einem donnernden fortissimo steigerten und dann ins Leitmotiv übergingen.
Die junge Pianistin hatte sich für eine unverblümt romantische Interpretation entschieden.
»Rachmaninow war schließlich Romantiker«, hatte sie ihrer Schwester erklärt. Unter Emilys geschickten Fingern erklang die Musik rein und gefühlvoll, aber nicht im geringsten sentimental oder schmalzig.
Agrowsky hat Wunder
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