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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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gewirkt, dachte Leslie. Aber sie konnte natürlich nicht wissen, welche Maßstäbe die Jury anlegen würde; sie war gar nicht in der Lage, einen deutlichen Unterschied zwischen den Interpreten zu hören. Sämtliche Studenten klangen für sie gleichermaßen professionell, Emily nicht weniger als die übrigen, obwohl ihre Schwester mehrere Jahre jünger war als ihre Mitbewerber. Schlank, mit ihrer geraden Haltung und der eleganten Ballerina-Positur, sah sie am Flügel auf jeden Fall reizend aus. Aber natürlich kam es darauf nicht an. In Leslies Augen wirkte sie jung und zerbrechlich.
    Wenigstens hat man sie nicht aufgefordert, das Adagio zu spielen.
    »Vielen Dank, Miss Barnes. Die Nummer sechs bitte«, erklärte Simon Anstey mit seiner sonoren Stimme, als Emily ihren Vortrag beendet hatte.
    Ein dicklicher junger Mann in Jeans trat vor. »David Lenney«, sagte er mit belegter Stimme. Emily kehrte zu Leslie zurück und glitt auf ihren Platz. Ihr Gesicht war kalkweiß. »Jesus, ich hab’s versiebt«, flüsterte sie.
    »Willst du gehen?«
    »Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich noch. Ich möchte gern noch ein bißchen sitzen bleiben und den anderen zuhören. Jetzt, wo ich es hinter mir habe, fühle ich mich besser.«
    Noch drei weitere Kandidaten traten an. Nachdem der letzte noch ein weiteres Mal das Adagio vorgetragen hatte – ein bärtiger junger Hippie, der Leslie entfernt an Frodo aus dem Buchladen erinnerte – erhob sich Dr. Agrowsky. »Haben Sie vielen Dank, meine Damen und Herren. Bitten kommen Sie heute nachmittag um vier Uhr hierher. Dann werden wir unsere Entscheidung bekanntgeben.« Die Studenten strömten aus dem Saal. Leslie nahm ihre Handtasche und Emilys Rucksack, und die beiden strebten ebenfalls dem Ausgang zu.
    »Sollen wir irgendwo etwas zu Mittag essen?«
    »Ich könnte keinen Bissen runterkriegen, Les.«
    Leslie zuckte die Achseln. »Dann laß uns einkaufen gehen. Wir könnten uns nach Kissen umschauen, wie du sie für dein Zimmer wolltest, und sie direkt zum Haus bringen. Und wenn wir einmal dort sind, überlegen wir schon einmal, wo wir die Möbel hinstellen.«
     
    Es kam, wie Leslie es beinahe erwartet hatte: Sobald sie das Konservatorium hinter sich gelassen hatte, erklärte Emily, sie könne ein Sandwich mit Ei und Avocado vertragen. Auf dem Weg zum Schnellimbiß zog sie genüßlich über die anderen Kandidaten her.
    »Jo Paddington gehört ebenfalls zu Agrowskys Schülern. Sie spielt nicht übel – wenn sie bloß nicht so fett wäre. So eine dicke Kuh wählt die Jury bestimmt nicht aus. Ich persönlich tippe auf Dave Lenney. Er ist einer von Dr. Milhausers Lieblingen und darf bei der Probe schon mit dem Orchester spielen. Lieber Gott, hast du Anstey gehört? Was für eine Stimme. Basso profundo. Und dieses unheimliche Auge. So was müssen die Leute meinen, wenn sie vom bösen Blick sprechen. Er durchbohrt einen richtig, nicht wahr?«
    Leslie schrieb die häßliche Bemerkung Emilys Aufregung zu und erwiderte nichts darauf. »Wird Anstey die Meisterklasse abhalten?«
    »Ja. Meine Güte, ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich unbedingt daran teilnehmen möchte. Der Mann jagt mir schreckliche Angst ein.«
    Emilys stressiger Morgen hatte Leslie so in Anspruch genommen, daß sie ihre eigenen Gefühle zurückgestellt hatte. Doch jetzt überfielen die aufstörenden Gedanken sie von neuem. Was hatte es zu bedeuten, daß sie Anstey am Gartentor ihres Hauses gesehen hatte? Und was sollte sie von der Erscheinung seines Doppelgängers im Atelier halten? Leslie hatte von Fällen gelesen, in denen Personen, die gewaltsam ums Leben gekommen waren, ein geisterhaftes Bild, eine Art Videoaufnahme ihres Todes erzeugt hatten. Aber ein lebender Mensch?
    Zum wiederholten Mal sagte sie sich, daß sie wahrscheinlich einer Halluzination erlegen war. Die Geschichte, die Joel ihr erzählt hatte, erklärte jedenfalls, warum sie Anstey begegnet war. Er hatte Alison Margrave gekannt und hatte vielleicht das Haus wiedersehen wollen, in dem seine alte Freundin gestorben war. Und er besaß einen Schlüssel, hatte zumindest einen gehabt. Leslie hatte einen Schlüsseldienst angerufen, der bis heute abend die Schlösser austauschen würde. Anstey konnte also nicht wieder bei ihr auftauchen – und wenn doch, würde er feststellen, daß er nicht mehr ins Haus konnte.
    Tatsächlich stand der Wagen des Handwerkers vor dem Haus, als die Schwestern dort eintrafen. Zufrieden steckte Leslie zwei neue Schlüsselsätze ein.

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