Die Hüter der Schatten
hinzu: »Dieses Haus gehört jetzt mir.« Sie hörte, wie der Teilnehmer am anderen Ende auflegte, doch Leslie blieb neben dem Apparat stehen und umklammerte den Hörer so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.
Den ersten anonymen Anruf, bei dem jemand nach Alison fragte, hatte sie an dem Tag erhalten, bevor sie dieses Haus zum erstenmal betreten hatte. Alison Margraves Haus. Einmal ist Zufall. Zweimal ist unwahrscheinlich. Dreimal ist eine feindliche Handlung. Aber wer war der Feind, und was wollte er von ihr? Das Unbekannte etwa, das die Hand nach ihr ausstreckte? Aber warum?
Nicht das Haus wird von Geistern heimgesucht, sondern ich.
8
Leslie saß am Frühstückstisch und ging in Gedanken ihre Checkliste durch. Sie hob den Blick, als Emily ins Zimmer kam. Ihre Schwester war bereits angezogen. In ihrem schwarzen Body und dem Rock von gleicher Farbe sah sie wie eine Schwarzweißaufnahme ihrer selbst aus. Alle Farbe schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein. Wie ein Zombie bewegte sie sich zum Herd und machte sich eine Tasse Tee.
Verwundert blickte Leslie auf. Selbst für einen von Emilys Kräutertees roch er merkwürdig.
»Was ist das, Emmie?«
»Baldrian. Ich bin mit den Nerven am Ende.« Erfolglos versuchte Emily zu lächeln. Sie nippte am Tee. Sofort verzog sie das Gesicht, kippte den Inhalt der Tasse ins Spülbecken und wusch sie aus. »Zu nervös, um diesen Geschmack zu ertragen. Gibst du mir einen Schluck Kaffee ab?«
Wortlos schenkte Leslie ihr eine Tasse ein. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich über Emilys pflanzliche Beruhigungsmittel lustig zu machen. »Soll ich dich fahren? Wegen des Umzugs habe ich sowieso allen Patienten bis Donnerstag abgesagt.«
»Ich bin ein großes Mädchen, Les, und brauche niemanden, der mir die Hand hält.«
Emily trank den Kaffee und zog wieder eine Grimasse. »Bah! Ich weiß wirklich nicht, was scheußlicher ist. Das hier oder der Baldrian!« Sie goß den Kaffee weg. »Ich glaube, ich trinke einen Tee aus Zitronengras. Der schmeckt und beruhigt.«
»Bleib sitzen. Ich mach’ dir den Tee.« Leslie trat an die beschrifteten Blechdosen und fand das Zitronengras auf Anhieb. Sie schüttete Wasser auf den Teebeutel, sog den duftenden Dampf ein und schob ihrer Schwester die Tasse hin. »Warum willst du dich in den Berufsverkehr stürzen? Spar dir deine Energie lieber fürs Vorspielen.««
»Würdest du mich wirklich fahren, Leslie? Ich meine …«
»Klar. Immer mit der Ruhe. Um wieviel Uhr mußt du dort sein?«
»Um halb zehn wird die Reihenfolge ausgelost. Zum Spielen komme ich vielleicht erst gegen Mittag …«
»In Ordnung. Ich habe heute vormittag nichts Besonderes vor.«
Emily warf ihrer Schwester ein schüchternes, dankbares Lächeln zu. »Ich bin das einzige Erstsemester. Die anderen sind fortgeschrittene Studenten oder haben sogar schon ihren Abschluß gemacht. Ich darf nur spielen, weil Agrowsky sich bei der Jury für mich eingesetzt hat. Angesichts dieser Konkurrenz werde ich auf keinen Fall für den Auftritt mit den Sinfonikern ausgewählt. Bei der ganzen Sache geht’s nur darum, ob ich in die Meisterklasse aufgenommen werde.« Mit zitternden Händen löffelte Emily einen Joghurt.
»Emmie, du gehst jetzt und legst etwas Lippenstift auf. Und Rouge.«
»Die Jury soll mich nach meinem Können beurteilen, nicht danach, wie sexy ich aussehe«, widersprach Emily.
»Sollen alle gleich merken, wie verängstigt du bist? Dein Gesicht ist totenbleich!«
»Okay.« Emily überlegte kurz. »Aber ich hab’ überhaupt kein Make-up«, sagte sie dann kaum hörbar.
»Schau auf meiner Frisierkommode nach.«
Beide Schwestern besaßen ungefähr die gleiche Haar- und Hautfarbe, und als Emily zurückkehrte, sah sie wie verwandelt aus. Sie verstaute die Partitur in ihrem Rucksack, holte die Noten jedoch während der ganzen Fahrt über die Brücke ständig wieder hervor und blätterte wie besessen darin herum.
»O Gott, ich hoffe, daß ich als erste oder zweite drankomme. Oder als letzte. Ich würde allerdings furchtbar ungern dasitzen und mir alle anderen anhören müssen. Man hat uns gesagt, wir sollten das ganze Klavierkonzert vorbereiten. Die Jury würde dann jeden von uns bitten, einen zufällig ausgewählten Satz vorzutragen. Wenn ich das Adagio bekomme … ich weiß nicht, wie ich das perfekt hinkriegen soll, und mein Legato ist scheußlich. Wenn die mich auffordern, das Adagio zu spielen, stehe ich auf und renne nach draußen …«
»Nein, das
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