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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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störte die Stille, die ihr besonders wohltuend erschien, nachdem ihr Poltergeist sie in den letzten Tagen in Atem gehalten hatte. Sie ging sogar in Emilys Musikzimmer und verbrachte eine angenehme halbe Stunde damit, den unkomplizierten ersten Satz der Mondscheinsonate zu spielen (mit den schnellen Akkorden des zweiten war sie nie zurechtgekommen) und ein fröhliches kleines Menuett von Bach. Als das Stück ausklang, vernahm Leslie ein verhaltenes Perlen von Tönen wie von einem fernen Cembalo und dachte an Miss Margrave. Ob sie sich wirklich darüber freute, daß ihr geliebtes Haus jetzt von zwei Frauen bewohnt wurde, die ihre Interessen teilten? Leslie glaubte kein Wort von Rainbows Geschichte, aber die Vorstellung gefiel ihr, daß in dem Zimmer, das Alison Margrave so geliebt hatte, der Nachklang ihres Cembalos überdauert hatte.
    Und wenn ich tatsächlich hellseherisch begabt bin, wie Nick behauptet, ist das, was ich höre, vielleicht bloß Alisons Willkommensgruß.
    Leslie ging wieder ins Arbeitszimmer und lehnte sich gemütlich im Stuhl zurück. Morgen würden ihre Patienten diesen Frieden stören, aber heute abend gehörte das Haus ihr ganz allein. Vielleicht erwies ihre neue Gabe sich ja doch noch als Segen und nicht als Fluch. Sie löschte das Licht und ging nach oben.
    Als Emily zurückkehrte und die Treppe hinaufkam, räumte Leslie gerade ihre Kommodenschubladen ein. Eben hatte die Kuckucksuhr in ihrem Arbeitszimmer zehn blecherne Rufe hören lassen.
    Leslie trat auf den Treppenabsatz. »Wie war das Konzert?«
    »Schön. Sie haben Mozart aufgeführt und eine Sinfonie von Haydn, und nachher sind wir alle zu Frodo gegangen, und er hat uns etwas auf der Querflöte vorgespielt, aus Orpheus und Eurydike von Gluck, den Reigen seliger Geister.« Sie summte eine sanfte Barockmelodie. »Dr. Anstey war auch da.«
    »Bei Frodo?«
    Emily kicherte. »Nein, du Schaf, beim Konzert natürlich. Es hieß, er würde diese Saison ein paar dieser Aufführungen dirigieren. Ich wette, der Mann ist am Pult das absolute Grauen!« Sie erschauerte. »›Anstey mit dem bösen Blick‹ sollte man ihn nennen.«
    »Emily!« rief Leslie tadelnd. »Der Mann kann nichts für seine Behinderung.« Sie stockte und schnüffelte; ein eigenartiger Duftschleier umwehte ihre Schwester. »Emily Jane Barnes, hast du geraucht?« fragte sie in scharfem Tonfall.
    »Hasch, meinst du? Einen einzigen Zug von einem Joint«, antwortete Emily. »Immer mit der Ruhe, Les. Ich bin ein großes Mädchen. Du weißt doch, daß ich das Zeug nicht mag. Und ich würde nie zulassen, daß es meinem Klavierspiel schadet. Sie haben das Ding herumgereicht, und ich hab’ einmal kurz daran gezogen, ohne zu inhalieren. Bloß um mich nicht auszuschließen.«
    Mehr darfst du nicht erwarten, dachte Leslie. Es war unvermeidlich, daß Emily in dieser Stadt in Gesellschaft junger Leute mit Hasch in Berührung kam. Doch wenn sie sich bereits im klaren darüber war, wieviel sie vertragen konnte – und Emily hätte nichts akzeptiert, das ihr musikalisches Feingefühl beeinträchtigte –, blieb Leslie nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen.
    »Du solltest duschen, ehe du zu Bett gehst – der Geruch haftet überall an dir«, meinte sie naserümpfend.
    »Ach was, wir haben doch im Freien gesessen, im Park. Vielleicht riechst du Frodos Beedies – du weißt schon, diese indischen Kräuterzigaretten. Er raucht sie, weil sie gut gegen sein Asthma sind. Sie sind vollkommen harmlos und duften nach Zimt«, entgegnete Emily und wandte sich ab, um auf ihr Zimmer zu gehen. »He, Moment mal, jetzt rieche ich es auch. O Gott, brennt hier etwas?«
    »Nein, dann würden die Rauchmelder anschlagen«, antwortete Leslie, rannte aber trotzdem nach unten in die Küche. Alles lag ruhig da; keine Spur von Rauch war zu entdecken. Doch oben im Flur roch sie den aromatischen Duft noch immer – und dann sah sie die blauen Rauchfäden, die auf dem Treppenabsatz zerflossen.
    »Das ist Weihrauch«, sagte Emily, »aber wo kommt der her?« Sie folgte dem Geruch durch den Flur. Gemeinsam durchsuchten die Schwestern das gesamte obere Stockwerk, doch ohne Erfolg.
    »Vielleicht hat jemand im Nebenhaus irgendein Räucherzeugs abgebrannt«, vermutete Leslie. »Dein Fenster steht offen. Gut möglich, daß der Qualm hereingezogen ist.«
    »Ich dachte, ich hätte das Fenster zugemacht«, meinte Emily. »Aber es war ein langer Tag. Genau weiß ich’s nicht mehr. Jetzt ist es jedenfalls zu.« Sie ging in ihr

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